Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften
Kornwachstum in Polykristallen: Algorithmen für den mittleren Krümmungsfluss
Einleitung
Die meisten kristallinen Festkörper sind Polykristalle, das heißt sie bestehen aus vielen einzelnen Kristallen, sogenannten Körnern. Typischerweise treten Metalle und Keramiken als solche Polykristalle auf. Allerdings besitzen nur speziell hergestellte Proben ein durchgehend homogenes Kristallgitter. Je höher die Temperatur ist, desto höher ist die Mobilität der Korngrenzen. Diese verschieben sich, um ihre Gesamtoberfläche zu verringern, denn jede dieser Grenzflächen zwischen den einzelnen Körnern stellt einen Defekt in der Kristallstruktur dar und ist mit einer effektiven Energie proportional zu ihrer Oberfläche verbunden. Ein typisches Phänomen, welches bei Kornwachstum beobachtet wird, ist die Vergröberung der Gesamtstruktur (siehe Abb. 1). Einige Körner wachsen auf Kosten anderer, welche nach und nach verschwinden.
Genauer gesagt hängen die effektive Energiedichte σ=σi,j(n) und Mobilität μ=μi,j(n) einer Korngrenze sowohl vom Versatz der beiden benachbarten Kristallgitter, mit i und j indiziert, als auch von der Orientierung dieser Grenzfläche, gegeben durch die Normale n, ab. Die Bewegungsgleichung solch einer Korngrenze ist (zumindest im isotropen Fall) V = σμH, wobei V die Geschwindigkeit in Normalenrichtung und H die mittlere Krümmung der Grenzfläche bezeichnet. Die mittlere Krümmung H ist die Summe der Hauptkrümmungen, das heißt die Reziproke des größten und kleinsten Krümmungskreises. Die mittlere Krümmung beschreibt auf infinitesimaler Ebene, wie sich die Oberfläche von Parallelflächen verhält und entspricht damit genau der ersten Variation des Oberflächenfunktionals. Da sich die Grenzflächen bewegen, um ihre Oberfläche zu verringern, ist es plausibel, dass die Normalengeschwindigkeit V proportional zur mittleren Krümmung H ist.
Die heute als mittlerer Krümmungsfluss bekannte Gleichung wurde erstmals vom Physiker W. W. Mullins in zwei Dimensionen aufgestellt und mit einer Gleichgewichtsbedingung an Tripelpunkten (Punkte an denen drei Körner aneinanderstoßen) gekoppelt. Die Gleichung tritt häufig in der Physik und den Ingenieurswissenschaften auf, aber spielt auch in der Mathematik eine wichtige Rolle. Der mittlere Krümmungsfluss ist eine (nichtlineare) Diffusionsgleichung für Flächen, welche durch die äußere Geometrie der Fläche gegeben ist und ähnelt somit dem Ricci-Fluss, der Diffusionsgleichung der inneren Geometrie. Letzterer wurde in höheren Dimensionen von Perelman genutzt, um die Poincaré-Vermutung über die topologische Klassifikation von Mannigfaltigkeiten zu beweisen, wofür ihm die Fields-Medaille angeboten wurde.
Numerische Algorithmen
Die Struktur des Netzwerks der Korngrenzen beeinflusst wichtige Materialeigenschaften wie die Elastizität oder Leitfähigkeit. Statistische Vorhersagen über die Verteilung der Körner können Aufschluss über diese Eigenschaften geben. Um signifikante Aussagen treffen zu können, werden effiziente numerische Algorithmen benötigt, welche diese komplexen Systeme für eine große Anzahl von Körnern und über lange Zeiten lösen können. Eine direkte Diskretisierung der Flächen ist wegen ständig auftretender topologischer Übergänge in der zeitlichen Entwicklung nicht effizient. Stattdessen werden Algorithmen gesucht, die solche Übergänge auf natürliche Weise implementieren. Neben Monte-Carlo-Simulationen gibt es nur wenige Verfahren, die diesen Anforderungen gerecht werden. Phasenfeldmethoden, welche die scharfen Grenzflächen durch diffuse Übergänge ersetzen, sind sehr aufwendig für große Systeme dieser Art. Das „thresholding scheme“ von Merriman, Bence und Osher [1] ist eine besonders elegante Zeitdiskretisierung, welche von Phasenfeldmethoden inspiriert, jedoch weitaus effizienter als diese ist. Simulationen zeigen die Eleganz und Effizienz des Schemas [2].
Im einfachsten Fall, wenn ein begrenztes Korn in ein größeres Korn eingebettet ist (siehe Abb. 2 links), lässt sich der Algorithmus auf der Ebene der charakteristischen Funktion des inneren Korns, welche den Wert 1 im Korn und den Wert 0 außerhalb annimmt, beschreiben. Jeder Zeitschritt des Algorithmus ist in zwei Teilschritte unterteilt. Zunächst löst man eine lineare Diffusionsgleichung ausgehend von der charakteristischen Funktion für die gewünschte Zeitschrittweite h und erhält eine glatte Funktion mit Werten zwischen 0 und 1 (siehe Abb. 2 Mitte). Dies lässt sich nach Ortsdiskretisierung effizient mit schneller Fourier-Transformation (FFT) implementieren. Im zweiten Teilschritt projiziert man diese diffundierte Funktion zurück auf den Raum der Funktionen mit Werten 0 oder 1, womit lediglich gemeint ist, dass die neue charakteristische Funktion auf 0 oder 1 gesetzt wird, je nachdem, welcher Wert näher am Funktionswert liegt (siehe Abb. 2, rechts).
Der Algorithmus lässt sich auf natürliche Weise zu beliebig komplexen Netzwerken aus Grenzflächen mit gleichen Oberflächenspannungen σi,j(n)=1 und mit Tripelpunkten in lokalem Gleichgewicht erweitern (siehe Abb. 3). Die Verallgemeinerung zu beliebigen Oberflächenspannungen σi,j und insbesondere zu Anisotropien σi,j(n) blieb trotz einiger Versuche für über zwanzig Jahre ungelöst. Der Schlüssel zu diesen Verallgemeinerungen ist eine Erkenntnis über eine strukturelle Eigenschaft der Gleichung, nämlich ihre Verbindung zur Oberflächenenergie.
Gradientenfluss-Struktur
Der mittlere Krümmungsfluss ist, auch in dieser allgemeineren Form, ein Gradientenfluss. In der Mathematik spricht man von einem Gradientenfluss, wenn die Bewegungsrichtung gleich der Richtung des steilsten Abstiegs in einer Energielandschaft ist. Diese Richtung hängt natürlich nicht nur von der Energie E ab, sondern auch davon, wie Abstände (mit einer Metrik d) im Konfigurationsraum gemessen werden. Die abstrakte metrische Sichtweise auf Gradientenflüsse wurde vom italienischen Mathematiker De Giorgi angestoßen. Jeder abstrakte Gradientfluss besitzt eine natürliche implizite Zeitdiskretisierung, welche durch eine Folge von Minimierungsproblemen gegeben ist: Im n-ten Schritt minimiert man den Ausdruck 2hE(x) + d2(x,xn-1), wobei h die Zeitschrittweite und xn-1 die Lösung im vorherigen Zeitschritt bezeichnet. Im einfachsten Fall einer gewöhnlichen Differenzialgleichung ist diese Diskretisierung genau das implizite Euler-Verfahren.
Im Fall des mittleren Krümmungsflusses ist die Energie E die gesamte Oberflächenenergie, gewichtet mit den anisotropen Energiedichten σi,j(n). Der metrische Tensor ist das Quadrat der Normalengeschwindigkeit V, integriert über die Korngrenzen und gewichtet mit den anisotropen Mobilitäten μi,j(n). Esedoglu und der zweite Autor [3] konnten beweisen, dass jeder Schritt des Thresholding-Schemas, das heißt die Kombination aus Diffusion und Projektion, äquivalent zum Lösen eines Minimierungsproblems ähnlich zum oben beschriebenen ist. Insbesondere dissipiert das Schema eine Energie, welches die gesamte Oberflächenenergie bei kleiner Zeitschrittweite h approximiert (siehe Abb. 4). Dies ist konsistent mit der Gradientenfluss-Struktur des mittleren Krümmungsflusses.
Die vom Schema dissipierte Energie kann man folgendermaßen begreifen. Pro Korngrenze misst man die Diffusion eines fiktiven Stoffes von einem angrenzenden Korn ins andere in der Zeit h. Diese Ausdrücke werden dann über alle Korngrenzen summiert und reskaliert. Die Verallgemeinerung des Schemas zu beliebigen Oberflächenspannungen ist dann unmittelbar: Versieht man diese Summe mit unterschiedlichen Gewichten, erhält man eine Approximation der gesamten Oberflächenenergie mit diesen Gewichten als Oberflächenspannungen. Auch mit den Gewichten versehen führt das Minimierungsproblem zu einer Version von Thresholding. So hat die Kollaboration zwischen der University of Michigan und dem Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften [3] zu einer Verallgemeinerung des Schemas für beliebige Oberflächenspannungen mit just derselben Komplexität geführt.
Diese variationelle Interpretation des Schemas als eine Folge von Minimierungsproblemen hat noch weitere Verdienste. Numerische Algorithmen, die nicht nur die Gleichung approximieren, sondern zusätzlich strukturelle Eigenschaften wie hier zum Beispiel die Dissipation der Energie mit der Gleichung teilen, besitzen oft sehr gute Stabilitäts- und Konvergenzeigenschaften. Am Max-Planck-Institut wurde dieser variationelle Standpunkt genutzt, um das Thresholding-Schema erstmals im Mehrkornfall wie in Abbildung 1 rigoros zu rechtfertigen [4]. Für diesen Konvergenzbeweis werden außerdem Hilfsmittel und Ideen aus der geometrischen Maßtheorie benutzt. Die bisher bekannten rigorosen Ergebnisse waren auf den speziellen Fall mit nur zwei Körnern wie in Abbildung 2 beschränkt. Des Weiteren geben ähnliche Methoden neue Einsichten in Varianten des Thresholding-Schemas [5], aber auch in Phasenfeldmodelle [6].