Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht
Die Überwachung von Telekommunikations-Verkehrsdaten
Surveillance of Telecommunications Traffic Data
Kriminologie (Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jörg Albrecht)
MPI für ausländ. und internat. Strafrecht, Freiburg
Der Zugriff auf Telekommunikations-Verkehrsdaten (Telefon- und Internetverbindungen, auch Verbindungsdaten genannt) wird als Ermittlungsinstrument neben der Überwachung der Kommunikationsinhalte immer wichtiger. Beide Maßnahmen sind Kernstücke einer langfristigen Transformation vom offenen zum heimlichen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Sie bilden daher einen Forschungsschwerpunkt im Programm der kriminologischen Abteilung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht. Nach einer ersten großen Evaluationsstudie zu Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation [1, 2, 3] und weiteren Untersuchungen zur akustischen Wohnraumüberwachung [4] und zur Rasterfahndung [5] wurde 2008 die erste deutsche Evaluationsstudie zur Überwachung der Verkehrsdaten veröffentlicht [6]. Die Untersuchung basiert auf der Analyse von Strafakten aus dem Jahr 2005 in vier Bundesländern (467 Fälle), einer bundesweiten schriftlichen Befragung von Staatsanwälten (874 Personen), mündlichen Vertiefungsinterviews mit Richtern, Staatsanwälten, Polizisten, Strafverteidigern und Mitarbeitern von Telekommunikationsunternehmen (53 Personen) sowie der Analyse anonymisierter Datensätze von zwei Unternehmen aus den Bereichen Mobil- und Festnetz.
Eine zentrale Rolle spielen Verbindungsdaten vor allem für die Bekämpfung der Datennetzkriminalität. Angesichts der sich dramatisch verdichtenden digitalen Kommunikation sind sie inzwischen aber auch in fast allen anderen Bereichen der Kriminalität von Belang. Neben der Auswertung, wer mit wem wann und wie lange telefoniert oder auf andere Weise elektronisch kommuniziert hat, können die Daten auch dazu eingesetzt werden, den Aufenthaltsort von Personen zu bestimmen, weitere Beweise zu ermitteln oder Täterstrukturen und Netzwerke der Transaktionskriminalität offenzulegen. In der Praxis sind die Verbindungsdaten inzwischen eine unverzichtbare Informationsquelle – wie nicht zuletzt die Richtlinie der Europäischen Union für die Vorratsspeicherung demonstriert [7].
Häufigkeit der Verkehrsdatenabfrage
Mit den offiziellen Statistiken sind keine Aussagen über die Gesamtzahl der Beschlüsse oder der Abfragen zu unterschiedlichen Bereichen von Verkehrsdaten möglich. Damit lassen sich auch nicht die Entwicklungen in diesem Bereich beobachten. Mit den Unternehmensdaten zu den entsprechenden Anfragen der Strafverfolgungsbehörden konnte allerdings eine Hochrechnung erfolgen. Die in Abbildung 1 dargestellten mittleren Werte bilden auch die Fehlerspanne ab. Danach lag die Zahl der Verkehrsdatenabfragen (§§ 100g, 100h alte Fassung Strafprozessordnung) im Jahr 2005 bei etwa 40.000; die Tendenz ist, wie ersichtlich, stark ansteigend.
Im direkten Vergleich mit den Daten aus der Untersuchung zur Telekommunikationsüberwachung (§§ 100a, 100b a.F. StPO) wurde im Jahr 2005 erstmals etwa gleich häufig die Abfrage von Verkehrsdaten und Inhaltsüberwachungen angeordnet (Telekommunikationsüberwachung etwa 42.500 Beschlüsse inklusive Verlängerungen und zirka 40.700 Beschlüsse zu Verkehrsdatenabfragen). In den Jahren davor lag die Abfrage von Verkehrsdaten noch deutlich unter der Anzahl von Inhaltsüberwachungen (2004: Telekommunikationsüberwachung 34.400, Verkehrsdaten 22.600; 2003: 29.430 zu 15.200 und 2002: 26.200 zu 10.200).
Arten und Einsatzbereiche der Verkehrsdatenabfrage
Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der wichtigsten Arten der Verkehrsdatenüberwachung im Mobilfunkbereich. Danach stieg die Zahl der Abfragen zu einer sogenannten IMEI-Nummer (International Mobile Equipment Identity) etwa um das Vierfache an. Die angeordneten Zielwahlsuchen, die auch als Zielsuchläufe bezeichnet werden, haben sich im gleichen Zeitraum verdreifacht.
Auch bei der Entwicklung der Anordnungen nach §§ 100g, 100h StPO im Festnetzbereich ist ein kontinuierlicher Anstieg der Zielwahlsuchen zu bemerken. Die Abfrage von abgehenden und zukünftigen Verkehrsdaten („Standardbeschlüsse“) verharrt dagegen seit 2003 auf gleichem Niveau. Ein extremer Anstieg fällt dann aber bei der Abfrage von sogenannten IP-Adressen (Internet Protocol Address) auf, die im weitesten Sinne als das funktionale Gegenstück zur IMEI-Abfrage bei den Mobiltelefonen bezeichnet werden können. Damit lässt sich beispielsweise ein individueller Computer identifizieren, mit dem bestimmte Adressen im Internet aufgerufen werden. Während 2004 noch Daten zu etwa 6.300 IP-Adressen abgefragt wurden, stiegen diese Anordnungen 2005 auf 75.500. Dies hängt unter anderem mit großflächigen Ermittlungen im Bereich der Urheberrechtsverletzungen (illegale Downloads) zusammen. Allein im Bereich der Staatsanwaltschaft Karlsruhe gingen 2005 etwa 20.000 Anzeigen wegen Urheberrechtsverletzungen ein. In diesen Fällen stellen viele Staatsanwaltschaften das Verfahren ein, ohne konkrete Ermittlungsmaßnahmen zu veranlassen – sofern die Anzeige nicht einen gewissen Schweregrad erreicht, der sich in der Regel an einer Mindestanzahl illegaler Downloads orientiert. Das hat nicht nur verfahrensökonomische Gründe. In Bagatellfällen, vor allem dann, wenn beispielsweise Jugendliche nur wenige oder sogar nur ein Musikstück illegal aus dem Internet herunterladen, wäre eine solche Maßnahme auch in rechtlicher Hinsicht unverhältnismäßig.
Das maßgebliche Deliktsspektrum der Verkehrsdatenabfrage betrifft daher andere Straftaten. Hier hat die Analyse der gerichtlichen Verfahrensakten deutliche Unterschiede zu Tage gefördert, je nachdem, ob Mobil- oder Festnetzanschlüsse überwacht werden. In vielen Fällen geht es bei den Überwachungen im Festnetzbereich um Betrug. Dabei spielen Fälle, die mit einer telefonischen Kontaktaufnahme beginnen, eine beachtliche Rolle. Ein häufig auftretendes Beispiel ist der sogenannte Enkeltrick, bei dem sich Fremde älteren Menschen gegenüber als Angehörige („Enkel“) ausgeben. Von Bedeutung sind auch Raub und Mord sowie Betäubungsmitteldelikte. Im Mobilfunkbereich dominieren als Anlassdelikte neben den Straftaten aus dem Betäubungsmittelbereich dagegen außer Raub- auch Diebstahlsdelikte.
Zweites wesentliches Unterscheidungskriterium ist die Art der Verkehrsdatenabfrage. So konzentriert sich etwa die Abfrage von IP-Adressen auf Betrugsdelikte sowie die Bereiche Kinderpornografie und Urheberrechtsverletzung. Bei der Funkzellenabfrage geht es hingegen sehr häufig um Raub- und Diebstahlsdelikte, darunter oftmals um die Aufklärung des Verbleibs von gestohlenen oder geraubten Mobiltelefonen. Auf diese Weise sollen auch die Täter des Münchner U-Bahn-Falles vom Dezember 2007 von der Polizei erfolgreich lokalisiert worden sein. Hier wie bei den Straftaten, die mittels Endeinrichtung begangen werden, bietet die Verkehrsdatenabfrage oft den einzigen erfolgversprechenden Ermittlungsansatz.
Insgesamt spricht die Verteilung der Straftatbestände dafür, dass die Verkehrsdatenabfrage in einem breiteren Deliktsspektrum angewendet wird als die „traditionelle“ (auf das Abhören der Gesprächsinhalte bezogene) Telekommunikationsüberwachung. Nur in 18 Prozent der Fälle waren Hinweise auf Verbindungen zur organisierten Kriminalität zu finden. Auch aus der Analyse der in den untersuchten Fällen verhängten Sanktionen ergibt sich, dass ein bedeutsamer Anteil der Verfahren mit Verkehrsdatenabfrage allenfalls der mittleren Kriminalität zuzuordnen ist. Dabei kam es überhaupt nur in jedem fünften Fall zu einer Verurteilung (21 Prozent); und nur 16 Prozent der Verurteilten erhielten eine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren.
Ganz überwiegend wurden in den untersuchten Beschlüssen bereits gespeicherte Daten abgefragt (93 Prozent; Abb. 3). Die Zielwahlsuche wurde in 55 Prozent der Beschlüsse angeordnet. In die Zukunft gerichtet waren 33 Prozent der Abfragen. Standortabfragen (18 Prozent) wurden etwa doppelt so häufig angeordnet wie Funkzellenabfragen (10 Prozent der Fälle). Bei den sonstigen Abfragen (4 Prozent) handelte es sich insbesondere um Abfragen der Rufnummer zur IMEI-Nummer, um Auskünfte zur benutzten SIM-Karte sowie um Bestandsdaten.
Sehr aufschlussreich sind schließlich die Analyseergebnisse zur Dauer der Verkehrsdatenüberwachung (Abb. 4). Während Zielwahlsuchen zur Erfassung eingehender Anrufe und Funkzellenabfragen vor allem in den Stunden- und Minutenbereich fallen, wird die Abfrage der von einem überwachten Anschluss ab- und dort eingehender Verbindungen („Standardabfragen“) gezielt auf einen längeren Zeitraum (zwei bis drei Monate) hin eingesetzt. Hier geht es darum, die Kommunikationsverkehrsdaten eines Tatverdächtigen möglichst breit zu erfassen.
Bewertung der Ergebnisse
Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Verkehrsdatenabfrage hauptsächlich im Anfangsstadium des Ermittlungsverfahrens eingesetzt wird. In zwei Dritteln der Verfahren war sie auch der Anlass für die erste Einschaltung der Staatsanwaltschaft. Häufig wird die Verkehrsdatenabfrage mit anderen Ermittlungsmaßnahmen wie Durchsuchung und Beschlagnahme kombiniert, vor allem aber auch mit der Telekommunikationsüberwachung. Im letzteren Fall ergänzt sich der Einsatz funktional. Indem die Verkehrsdatenabfrage Anschlussnummern ermittelt, dient sie oftmals dazu, die Telekommunikationsüberwachung vorzubereiten, oder dazu, Gesprächsteilnehmer zu identifizieren. Sie wird gleichzeitig mit der Telekommunikationsüberwachung angeordnet, wenn die Abfrage gespeicherter Daten und die gleichzeitige Anordnung der Telekommunikationsüberwachung für die Zukunft zu einem umfassenden Bild der Kommunikationsmuster führen soll. Hier gilt die Verkehrsdatenabfrage bei den Praktikern aus den Ermittlungsbehörden als sehr ökonomische Maßnahme. Außerdem soll sie erste Ermittlungsansätze gewinnen, um dann andere Maßnahmen durchführen zu können.
Die Verkehrsdatenabfrage ist demnach – anders als die auf Gesprächsinhalte bezogene Telekommunikationsüberwachung – nicht das „letzte“ Mittel, sondern, umgekehrt, das „erste“. Anders ist dies nur in Verfahren, in denen die Verkehrsdatenabfrage, wie oben erläutert, die einzige erfolgversprechende Ermittlungsmaßnahme darstellt. Zu dem Gesamtbild über den Einsatz der Verkehrsdatenabfrage passt im Übrigen der in den Befragungen ermittelte Befund, dass diese von Praktikern im Vergleich zur konventionellen Telefonüberwachung wie zu anderen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen tendenziell als weniger belastend eingeordnet wird.
Ausblick
Alle Untersuchungsergebnisse basieren noch auf der Rechtslage, wie sie sich in Deutschland vor Einführung der Vorratsdatenspeicherung dargestellt hat. Insoweit orientiert sich die Praxis maßgeblich an den verfügbaren Datenbeständen. Diese Verfügbarkeit war bis dahin weithin von der internen Zweckbestimmung bei den Telekommunikationsunternehmen, insbesondere der Rechnungsstellung, bestimmt. In der Regel waren die Daten damit nur über einen Zeitraum von höchstens drei Monaten verfügbar. Speicher- oder Löschpraktiken sind außerdem durch verfassungs- und datenschutzrechtliche Vorgaben beeinflusst. Daher waren aussagefähige Verbindungsdaten bei Kunden mit Prepaid-Karten und Nutzern von Flatrates bislang praktisch nicht verfügbar. Ob, und gegebenenfalls wie, sich die Überwachungspraxis unter den Bedingungen der jetzt geltenden sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung – die sich im Gegensatz zur bisherigen Praxis an den Interessen der Strafverfolgung orientieren soll – verändern wird, wird Gegenstand einer Wiederholungsstudie sein, deren Abschluss für Ende 2010 geplant ist.