Vorstoß zum letzten Protoplaneten
Nach fast vier Jahren Flug hat die Raumsonde Dawn den Kleinplaneten Vesta erreicht. Mit den beiden Bordkameras sitzen Max-Planck-Wissenschaftler bei der Erforschung des Asteroiden in der ersten Reihe. Es geht um eine Zeitreise zu den Ursprüngen des Sonnensystems.
Text: Thorsten Dambeck
Wenn Astronomen das Hubble-Teleskop auf den Kleinplaneten Vesta richten, dann ziehen sie ihre letzte Trumpfkarte. Mit seinem Adlerblick ist das Weltraumfernrohr für die schärfsten Aufnahmen von Himmelskörpern bekannt. Doch in Sachen Vesta ist auch Hubble mit dem Latein am Ende: Seine Fotos aus dem Jahr 2007 erinnern an den Anblick vom Mars, den ein Kaufhaus-Fernrohr bietet: einige verwaschene helle und dunkle Flecken und zusätzlich eine leicht unrunde Gestalt – mehr lässt sich auf der kleinen Vesta kaum erkennen. Dabei ist Vesta immerhin der drittgrößte Kleinplanet. Ceres, in puncto Größe die Nummer Eins, hat mit rund 1000 Kilometern fast den doppelten Durchmesser. Beide Asteroiden sind den Astronomen seit zwei Jahrhunderten bekannt, doch erst jetzt wird ihre Erforschung richtig in Schwung kommen, denn Vesta und Ceres stehen auf dem Flugplan der Nasa-Sonde Dawn. Diese ist nach knapp vierjähriger Anreise am Samstag in eine Umlaufbahn um Vesta eingeschwenkt.
An Bord befinden sich zwei Kameras, deren Bau und Entwicklung Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung (MPS) bei Göttingen leiteten, die sogenannten Framing Cameras. Die beiden baugleichen Instrumente sollen das Kunststück vollbringen, ein ausgedehntes Stück Terra incognita des Sonnensystems in kartografiertes Land zu überführen. Außerdem geht es bei Dawns Mission um die chemisch-mineralogische Zusammensetzung der Oberflächengesteine beider Himmelskörper. All das dient dazu, die große Frage der Astronomie zu beantworten: Wie sind die Planeten des Sonnensystems entstanden?
Lange hielt sich die Vermutung, Asteroiden seien Trümmer eines zerborstenen Planeten jenseits der Marsbahn, denn Hunderttausende Artgenossen von Vesta umrunden die Sonne, vorwiegend im sogenannten Hauptgürtel zwischen Mars und Jupiter. Doch die These vom zerschmetterten Planeten ist längst passé, er wäre außerdem winzig gewesen, zusammen erreichen alle Kleinplaneten des Hauptgürtels nicht einmal die Masse des Erdmondes. Planetologen gehen vielmehr davon aus, dass die Kleinplaneten eine Art planetares Baumaterial sind, das bei der Konstruktion der Welten unseres Sonnensystems übrig blieb.
Die letzte ihrer Art
„Wir wissen heute, dass die Geburt der großen Gasplaneten und der erdähnlichen Planeten unterschiedlich verlief“, erläutert MPS-Direktor Ulrich Christensen, der Mitglied des wissenschaftlichen Teams von Dawn ist. „In der protoplanetaren Scheibe aus Gas- und Staub wuchsen zuerst die Gasriesen Jupiter und Saturn, beide benötigten dafür nur wenige Millionen Jahre.“ Die Bildung der erdähnlichen Planeten war hingegen langwieriger. Schon der US-Planetenforscher George Wetherill ging in den 1970er-Jahren von mehreren Stufen aus: Die ersten Urkörper, deren Ausmaße mindestens einige Kilometer betrugen, waren sogenannte Planetesimale, die durch Kollisionen heranwuchsen. Christensen: „Einige Exemplare legten damals besonders schnell Masse zu, so entstanden die ersten Protoplaneten.“ Diese verzehrten zunächst lediglich benachbarte Planetesimale, wodurch ihr weiteres Wachstum begrenzt war. Schließlich bildeten sich die heutigen Planeten durch gewaltige Kollisionen der Protoplaneten untereinander. Vesta genießt nun einen besonderen Status unter den zahllosen Asteroiden: Wahrscheinlich ist sie der letzte Protoplanet, der die gewalttätige Phase der Planetengeburt überstand. Die genaue Dauer dieser Geburtsphase ist unklar, Astronomen schätzen sie bis auf bis zu 100 Millionen Jahre.
Vesta ist demnach eine Art lebendes Fossil. „Manche Planetenforscher bezeichnen sie sogar als den kleinsten terrestrischen Planeten“, so Christensen. Indizien dafür liefert eine spezielle Meteoritengruppe: „Die sogenannten HED-Meteoriten deutet man als Bruchstücke von Vesta, denn ihre Reflektionsspektren ähneln stark dem Asteroiden“, erläutert der Geophysiker. Das Kürzel HED steht für Howardite, Eucrite und Diogenite, allesamt Steinmeteorite, rund fünf Prozent der Meteoritenfälle werden als HED klassifiziert. Die chemische Analyse der Himmelssteine prägt das Bild, das sich die Wissenschaftler von Vesta machen: Sie lesen aus den Steinen Anzeichen für eine frühe Aufschmelzung ihres Mutterkörpers heraus – einst gab es auf Vesta offenbar Vulkanismus. Dawn soll nun weitere Beweise für die Verknüpfung zwischen Vesta und den HED-Meteoriten finden.
„Ähnlich wie bei der Erde und den anderen terrestrischen Planeten, gehen wir auch bei Vesta von einem differenzierten Aufbau aus. Unter der äußeren Kruste folgt tiefer im Innern ein Gesteinsmantel und im Zentrum ein Metallkern“, zählt der Framing Camera Projektleiter am MPS Andreas Nathues die geologischen Stockwerke des Vesta-Körpers auf. „Anders als der Erdkern ist der Kern von Vesta allerdings längst abgekühlt und erstarrt.“ Auf der südlichen Halbkugel des Kleinplaneten existiert ein großer Einschlagkrater, sein Durchmesser erreicht rund 460 Kilometer. Rechnungen zeigen, dass Trümmer dieses gewaltigen Einschlages Fluchtgeschwindigkeit erreichten, so entstand wahrscheinlich eine Gruppe von Hauptgürtel-Asteroiden, deren Zusammensetzung dem Krustengestein von Vesta ähnelt, die „Vesta Asteroidenfamilie“. Bei dem Aufprall wurde wahrscheinlich auch Tiefengestein ins All katapultiert. Denn die Diogenite unter den HED-Meteoriten bestehen aus Gestein, wie es die Planetologen in den tiefen Gesteinsschichten vermuten. Bisher konnte jedoch kein Asteroid dingfest gemacht werden, der Vestas Mantelgestein ähnelt.
Ansichtskarten aus dem Unbekannten
Kürzlich meldeten Vishnu Reddy und Andreas Nathues vom MPS jedoch Erfolg – und zwar in Erdnähe. Einige Kleinplaneten haben nämlich dem heimatlichen Hauptgürtel den Rücken gekehrt. Störkräfte lenkten sie nach und nach an Stellen im Gürtel, von wo sie durch andere Planeten ins innere Sonnensystem abgelenkt wurden. Das sind die sogenannten erdnahen Asteroiden. Dazu gehört auch 1999 AT10, der vor etwa einem Jahrzehnt aufgespürt wurde, er misst etwa einen Kilometer. Infrarotspektren des Brockens, die vor einem Jahr ein Nasa-Teleskop auf Hawaii aufzeichnete, gaben den entscheidenden Hinweis. Denn in diesem Wellenlängenbereich hinterlassen Gesteine charakteristische spektrale Fingerabdrücke. Schon eine erste Prüfung seines Spektrums wies ihn als einen Verwandten der Vesta aus. Detaillierte Analysen der Messungen lieferten weitere Aufschlüsse: Neben calziumhaltigem Wollastonit wurde auch das eisenhaltige Ferrosilit gefunden. Was bedeutet das für den Ursprungsort von 1999 AT10, stammt er aus Vestas Kruste oder ist er ein Fragment aus der Tiefe? Nathues: „Beide Mineraltypen kommen zwar sowohl in der Kruste, als auch im Mantel von Vesta vor, entscheidend ist jedoch das Verhältnis. Im Fall von 1999 AT10 ist der atomare Eisengehalt im Pyroxen deutlich geringer als bei allen anderen bekannten Vestoiden.“ Nathues Fazit. „Viel spricht dafür, dass wir ein Stück aus der unteren Kruste oder dem oberen Mantel der Vesta gefunden haben.“
Bereits einmal lag ein Bruchstück Vestas kurzzeitig im Visier einer Raumsonde: Das war im Jahr 1999, als die Nasa-Sonde Deep Space 1 den Kleinplaneten Braille passierte, ebenfalls ein Mitglied der Vesta Asteroidenfamilie. Leider verhinderten damals technische Probleme, dass hochauflösende Bilder des langgestreckten Brockens gelangen. Nun müssen die beiden Dawn-Kameras zeigen, was sie können. „Vestas südlicher Riesenkrater wird zu den ersten Zielen gehören“, sagt Max-Planck-Forscher Holger Sierks Co-Investigator der Mission und verantwortlich für die Entwicklung der Kameras. „Mit ihren sieben Farbfiltern und zusätzlich einem Klarfilter kann unsere Kamera Farbbilder aufnehmen“, erläutert Sierks die technischen Details des etwa fünf Kilogramm schweren Instruments. „Eine einzelne Aufnahme braucht rund fünf Sekunden, hinzu kommen etwa eine Minute zur Datenkompression und die jeweiligen Belichtungszeiten.“ Diese ähneln typischen Werten irdischer Schnappschüsse: „Durch den Klarfilter, der im sichtbaren Licht alle Wellenlängen passieren lässt, belichten wir etwa eine Hundertstel Sekunde. Mit vorgeschalteten Farbfiltern sind unterschiedliche Zeiten notwendig, da jeweils nur bestimmte Wellenlängen durchgelassen werden und die Empfindlichkeit des Sensors mit der Farbe variiert. Das erfordert Belichtungszeiten bis zu 1,2 Sekunden.“ Da die Topographie auf Vesta aus unterschiedlichen Winkeln aufgenommen wird, werden auch Stereo-Ansichten mit 3D-Effekt den Asteroiden im wahrsten Wortsinne „begreifbar“ machen.
Kurz bevor der Bilderstrom der beiden Bordkameras einsetzt, erinnert Ulrich Christensen an die Geschichte der Sonnensystemforschung. „Praktisch jede gelungene Mission brachte große Entdeckungen: Auf dem Mars existieren Riesenvulkane, Jupiters Trabant Io prägt ein extremer Vulkanismus, und unter der Eiskruste des Europa-Mondes gibt es höchstwahrscheinlich ein salziges Meer.“ Dawn hat nun zehn Monate Zeit die Geheimnisse Vestas zu lüften. Holger Sierks kann die Fotos aus dem Orbit kaum erwarten: „Wir freuen uns auf Ansichtskarten aus einem völlig unbekannten Land.“