Lebende Fossilien der Hirnentwicklung

Göttinger Wissenschaftler rekonstruieren einen radikalen Umbau in der Evolution des Gehirns

10. Mai 2012

Die Hirnarchitektur der Maus hat sich im Laufe ihrer Evolution möglicherweise kaum verändert. Wie bei den winzigen Urahnen der heutigen Säugetiere, die vor etwa 80 Millionen Jahren lebten, sind auch bei der Maus Nervenzellen in der Sehrinde in einem kleinen Hirnbereich zusammengedrängt. Bei der Evolution größerer Gehirne ist es zu einem radikalen Umbau der Architektur der Großhirnrinde gekommen. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Forscherteam unter Führung von Göttinger Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation, der Universität Göttingen und des Bernstein Zentrums for Computational Neuroscience Göttingen. Das Gehirn größerer Säugetiere, wie etwa des Menschen, ist hingegen völlig anders aufgebaut als das der Maus. Prozesse der Selbstorganisation ließen dort Module entstehen, in denen Neuronen gemeinsam spezielle Aufgaben übernehmen.

Menschen sind deutlich größer als fast alle ihre Vorfahren. Unsere Ururgroßeltern waren im Mittel etwa 10 Zentimeter kleiner als wir. Geht man weiter in die Vergangenheit zurück, dann nimmt der Größenunterschied zu den Vorfahren beeindruckende Ausmaße an. Die vor 80 Millionen Jahren lebenden Ahnen des Menschen und aller heute lebenden Säugetiere waren sämtlich leichter als 100 Gramm und meist nur wenige Zentimeter groß. Ökologische Nischen, die einen größeren Körperbau erlaubt hätten, waren von Dinosauriern besetzt. Erst das große Artensterben, das die Urzeitechsen vor 65 Millionen Jahren auslöschte, ermöglichte unseren Vorfahren einen „Wachstumsschub“ erdhistorischen Ausmaßes. Innerhalb nur weniger Millionen Jahre  brachte die Evolution Säugetiere hervor, die mehr als 100-mal so groß waren wie ihre Vorfahren im Erdmittelalter.

Das internationale Wissenschaftlerteam unter Führung Göttinger Max-Planck-Forscher berichtet nun, dass dieser Wachstumsschub wahrscheinlich zu einer fundamentalen Umgestaltung von Nervenschaltkreisen im Gehirn geführt hat. An der Studie waren auch Wissenschaftler der Frankfurter Goethe-Universität sowie weitere internationale Partner beteiligt. Wie die Forscher entdeckten, haben verschiedene Abstammungslinien unabhängig voneinander Nervenschaltkreise im Sehzentrum der Großhirnrinde entwickelt, die bis in kleinste Details übereinstimmten. Computersimulationen und mathematische Berechnungen zeigen, dass diese Übereinstimmung grundlegende Gesetze der Selbstorganisation großflächiger Nervennetze widerspiegelt. Die Forscher weisen auf die Existenz „lebender Fossilien der Hirnentwicklung“ hin. Gemeint sind Tierarten, bei denen auch heute noch die Architektur der Nervenschaltkreise unserer Ahnen erhalten sein sollte. Zu ihnen gehört erstaunlicherweise auch einer der nächsten Verwandten der Primaten: die Maus.

Ein wesentlicher Aspekt der Evolution des Menschen bestand in der Vergrößerung des Gehirns und hierbei besonders der Großhirnrinde, zu deren Aufgaben die bewusste Wahrnehmung, Entscheidungsprozesse und viele Gedächtnisleistungen zählen. Dieser Hirnteil ist bei uns - wie auch bei vielen anderen Säugetieren -  in Module untergliedert, in denen Gruppen von Neuronen in dichten Netzwerken miteinander verschaltet sind und gemeinsam jeweils eine Teilaufgabe, wie zum Beispiel die Wahrnehmung eines bestimmten Farbtons, übernehmen. Die nun veröffentlichte Arbeit analysiert die Evolution sogenannter Orientierungskolumnen, Module der Sehrinde, die der Formwahrnehmung beim Sehen zugrunde liegen.

Diese Module haben in der Regel eine Größe von ungefähr einem Millimeter und sind innerhalb der Sehrinde zu Hunderten nebeneinander angeordnet. Die neue Studie zeigt, dass diese räumliche Anordnung exakt eingehaltenen, geometrischen Regeln folgt. Erstaunlicherweise gelten die gleichen Gesetze in Abstammungslinien, die unabhängig voneinander große Gehirne entwickelt haben und auch bei Tieren, die sich in der Hirngröße stark voneinander unterscheiden. Die neuen Untersuchungen widerlegen damit eine konkurrierende Hypothese, nach der solche geometrischen Eigenschaften stark von der Hirngröße abhängen sollten. Über einen wesentlichen Bereich der evolutionären Vergrößerung des Gehirns scheint sich nur die Anzahl der Module vermehrt zu haben. Die Gesetze ihrer Anordnung blieben dabei unverändert.

Die Autoren weisen darauf hin, dass diese Gesetze nicht für die gesamte Stammesgeschichte gelten können. Wolfgang Keil, Erstautor der Untersuchung erklärt: „Bei unseren winzigen Vorfahren im Erdmittelalter müssen diese Gesetzmäßigkeiten des Hirnaufbaus an ihre Grenzen gestoßen sein. Ihre Gehirne waren so klein, dass nicht einmal ein einzelnes Modul in ihrer Großhirnrinde Platz gefunden hätte.“ Die Forscher halten es deshalb für wahrscheinlich, dass unsere Vorfahren eine fundamental andere Architektur ihrer Sehrinde aufwiesen.

In der Tat scheinen Orientierungskolumnen allen lebenden Säugern, die leichter als 100 Gramm sind, völlig zu fehlen. Bei Mäusen zum Beispiel sind Nervenzellen mit unterschiedlichen Aufgaben in der Sehrinde scheinbar wahllos durcheinander gemischt. Ob unsere Hirnarchitektur aus einer durchmischten oder vielleicht einer noch viel fremdartigeren Hirnorganisation entstanden ist, kann nach Einschätzung der Forscher erst nach weiteren Untersuchungen erschlossen werden. Eine wichtige Aufgabe zukünftiger Studien wird es sein, die Gesetzmäßigkeiten, die kleine Gehirne bestimmen, auszuloten. „Tatsächlich gibt es viele dunkle Kontinente hinsichtlich der Architektur der Sehrinde in den verschiedenen Abstammungslinien der Säugetiere“, erläutert Fred Wolf, Leiter der Studie am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und am Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience. Die Forscher hoffen, dass Ihre Arbeit Kollegen in aller Welt anregen wird, zur Lösung dieses grundlegenden Rätsels unserer Entstehungsgeschichte beizutragen.

 

 

 

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