Wie Nervenzellen wachsen
Göttinger Max-Planck-Wissenschaftler entschlüsselt einen molekularen Prozess, der das Nervenzellwachstum steuert
Der Göttinger Hirnforscher Hiroshi Kawabe hat einen bislang vollkommen übersehenen Prozess aufgeklärt, der es Nervenzellen im Gehirn ermöglicht, zu wachsen und komplexe Netzwerke zu bilden. Die jetzt in der Fachzeitschrift Neuron veröffentlichte Studie zeigt, dass ein Enzym, das eigentlich die Zerstörung von Eiweißbausteinen reguliert, in Nervenzellen eine vollkommen unerwartete Funktion hat: Es steuert den Aufbau des Zellskeletts und gewährleistet so, dass Nervenzellen ihre für die Signalübertragung im Gehirn notwendigen baumartigen Fortsätze bilden können. (Neuron, 11. Februar 2010)
Um Signale anderer Zellen empfangen zu können, bilden Nervenzellen komplizierte Fortsätze aus, die nach dem griechischen Begriff dendron für Baum als Dendriten bezeichnet werden. Das Wachstum von Dendriten im menschlichen Gehirn findet hauptsächlich während der späten embryonalen und frühkindlichen Hirnentwicklung statt. In dieser Phase wachsen aus den 100 Milliarden Nervenzellen unseres Gehirns Dendriten mit einer Gesamtlänge von vielen Hundert Kilometern aus. Das Endergebnis ist ein hochkomplexes Nervenzell-Netzwerk, das alle Körperfunktionen steuert - von der Atmung bis zu komplizierten Lernprozessen.
Damit diese fulminante Wachstumsphase der Hirnentwicklung nicht ins Chaos führt, muss das Auswachsen der Dendriten genau kontrolliert werden. Tatsächlich steuern zahlreiche Signalprozesse die Richtung und die Geschwindigkeit des Dendritenwachstums, indem sie den Aufbau des Zellskeletts beeinflussen, das im Inneren des auswachsenden Dendriten für dessen Form und Verlängerung verantwortlich ist.
Wie das Wachstum des Zellskeletts während der Dendritenentwicklung genau gesteuert wird, hat nun der Göttinger Hirnforscher Hiroshi Kawabe herausgefunden. Der japanische Gastwissenschaftler, der am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin forscht, entdeckte an eigens entwickelten genetisch veränderten Mäusen, dass das Enzym Nedd4-1 für ein normales Dendritenwachstum unverzichtbar ist. Nedd4-1 ist ein Enzym, das eigentlich den Abbau von Eiweißbausteinen in Zellen steuert, indem es sie mit einem anderen Eiweiß namens Ubiquitin verbindet. Derart ubiquitinierte Moleküle werden von der Zelle als "Abfall" erkannt und abgebaut. In manchen Fällen jedoch führt die Ubiquitinierung nicht zum Abbau des markierten Proteins sondern verändert dessen Funktion.
Nedd4-1 verhindert Abbau des Zellskeletts
Kawabe wies nun nach, dass das Enzym Nedd4-1 ein als Rap2 bezeichnetes Signalprotein ubiquitiniert, und es so daran hindert, die Zerstückelung des Zellskeletts und den Zusammenbruch der Dendriten herbeizuführen. "Solange Nedd4-1 aktiv ist, können die Nervenzelldendriten normal wachsen", so Kawabe. "Fällt es aus, kommt das Dendritenwachstum zum Stillstand und einmal ausgebildete Dendriten fallen in sich zusammen, mit dramatischen Konsequenzen für die Funktion von Nervenzellnetzwerken im Gehirn." Allerdings gibt es wahrscheinlich eine Reihe parallel operierender Signalwege, die das Dendritenwachstum steuern. So lässt sich erklären, warum Nervenzellen auch ohne Nedd4-1 - wenn auch deutlich weniger und kürzere - Dendriten ausbilden können. Der Nedd4/Rap2/TNIK-Mechanismus wäre dann nur einer von mehreren, die einander teilweise kompensieren können.
Kawabes Entdeckung liefert einen wichtigen neuen Einblick in die Mechanismen, die die Hirnentwicklung steuern. "Eigentlich ist es überraschend, dass das bisher noch niemand untersucht hat", meint der japanische Biochemiker. Es ist nämlich schon lange bekannt, dass Nedd4-1 eines der am häufigsten vorkommenden Ubiquitinierungs-Enzyme in Nervenzellen ist und genau in der Entwicklungsphase besonders häufig erzeugt wird, in der Nervenzellen wachsen und ihre Dendriten ausbilden. Kawabe berichtet, dass die Funktion von Nedd4-1 schon in dutzenden von Studien untersucht worden sei. "Aber Arbeiten über dessen Rolle in Nervenzellen gibt es keine, obwohl sie eigentlich so nahe liegend gewesen wären."