Forschungsbericht 2014 - Friedrich-Miescher-Laboratorium für biologische Arbeitsgruppen in der Max-Planck-Gesellschaft
Mechanismen der Anpassung und Artbildung bei Stichlingen
Die Entstehung der Arten
Die Erde beheimatet eine bemerkenswerte Vielfalt an Organismen unterschiedlichster Form und Größe. Viele Arten haben spezielle Merkmale ausgebildet, die ihr Überleben und ihre Fortpflanzung in einer speziellen Umgebung sichern. Die Erforschung der genetischen Grundlagen und der molekularen Mechanismen solcher umweltbedingten Anpassungen kann diejenigen Faktoren aufzeigen, die Fitness und Überleben in speziellen Umgebungen einschränken oder fördern und neuen Artenbildungen zugrunde liegen. Die Ergebnisse bereichern nicht nur unser Wissen über die Entstehung und Entwicklung von Biodiversität, sondern liefern auch Hinweise darauf, wie Arten, insbesondere auch landwirtschaftlich wichtige Nutzpflanzen und Tiere, in Zukunft mit rasanten Umweltveränderungen zurechtkommen können. Darüber hinaus geben die Resultate Aufschluss über die evolutionäre Fitness in verschiedenen Umgebungen und über die molekularen Grundlagen umweltbedingter Krankheiten.
Der Stichling als Modellorganismus zur Untersuchung adaptiver Evolution
Der dreistachelige Stichling (Gasterosteus aculeatus, Abb. 1) ist ein kleiner, 4 bis 6 cm langer Meer- und Süßwasserfisch, der in verschiedenen aquatischen Lebensräumen in den gemäßigten Klimazonen der nördlichen Halbkugel vorkommt. Seit dem Abschmelzen der letzten pleistozänen Eiskappe vor 10.000 bis 20.000 Jahren haben sich in vielen neu gebildeten Süßwasserlebensräumen anzestrale Meerwasserstichlinge angesiedelt.
In einem Zeitraum, der – evolutionär betrachtet – einem Wimpernschlag gleichkommt, hat diese Art eine adaptive Radiation erlebt: Einzelne Individuen haben sich in andere Umwelten hineingewagt und sich an die dort herrschenden Bedingungen angepasst. Heute gibt es dreistachelige Stichlinge in vielen verschiedenen Formen und Größen (Abb. 2, [1]). Die phänotypische, also äußerliche Diversität ist so bemerkenswert groß, dass Naturhistoriker und Systematiker ursprünglich jede dieser Populationen als eigenständige Art beschrieben haben. Heute werden sie aufgrund ihrer Fähigkeit, sich untereinander fortzupflanzen und überlebensfähige, gesunde Nachkommen zu produzieren, konsequenterweise von Forschern als eine einzige Art zusammengefasst.
Hinsichtlich der Fähigkeit, sich untereinander fortzupflanzen und einen gesunden Nachwuchs zu produzieren, bestehen allerdings bemerkenswerte Ausnahmen – und genau die sind für Evolutionsbiologen besonders interessant. Eine derartige Ausnahme – als neuentstehende Artenpaare bezeichnet – sind verschiedene Meer- und Süßwasserstichlingsformen, auch Ökotypen genannt. Solche morphologisch, physiologisch, verhaltensbedingte und genetisch verschiedene Ökotypen kommen während der Fortpflanzungsperiode an den Unterläufen von Flüssen und Strömen der nördlichen Halbkugel miteinander in Kontakt [2]. Obwohl Hybridisierung und Genaustausch möglich sind und stattfinden, verschmelzen die verschiedenen Ökotypen nicht zu einer einzigen homogenen Population [3, 4], sondern die jeweiligen Süß- und Meerwasserfische behalten ihre zahlreichen Unterschiede in Form, Physiologie und Verhalten und weisen weiterhin unterschiedliche Genpools auf. Untersuchungen belegen geringe Abweichungen bei der Paarungspräferenz und in den Kontaktzonen sind Hybride und eingemischte Individuen gemeinsam zu beobachten [4, 5].
Das widerspricht der klassischen Evolutionstheorie, nach der zu erwarten wäre, dass die Stichlinge angesichts eines so hohen Genflusses wieder einen Hybridschwarm bilden. Damit wiederum die Verschiedenartigkeit von Meer- und Süßwasserökotypen erhalten bleibt, so die Hypothese der Forscher, können Hybride und Migranten nicht überleben oder sich angemessen fortpflanzen, sobald sie den falschen Genotyp in der falschen Umgebung in sich tragen. Da dieses Phänomen in den Meer- und Süßwasserkontaktzonen der Stichlinge weltweit laufend wiederkehrt, steht den Wissenschaftlern nunmehr eine Vielzahl von Forschungsstandorten zur Verfügung, wodurch sie die molekularen Grundlagen von Anpassung und Speziation genau untersuchen können. Welche Faktoren und Prozesse liegen der unterschiedlichen Anpassung an verschiedene Umgebungen durchgängig und allgemein zugrunde? Und wie tragen sie letzten Endes zur Bildung neuer Arten bei?
Die Sequenzierung kompletter Genome deckt molekulare Grundlagen der Anpassung auf
Kürzlich wurden im Rahmen einer groß angelegten Kooperation neueste Whole Genome Sequenzierungstechnologien eingesetzt, um die genomische Basis der adaptiven Divergenz zwischen Meerwasser- und Süßwasserstichlingen aufzuklären [6]. Die Analyse von 21 Meer- und Süßwassergenomen, die zehn Replikatpaare von Meer- und Süßwasserstichlingen repräsentieren, bot den Tübinger Wissenschaftlern sehr gute Möglichkeiten zu untersuchen, wo und wie die Evolution das Genom optimiert hat.
Das Ergebnis gestaltete sich als sehr interessant: In großen Teilen des Genoms unterscheiden sich die Süßwasserstichlinge nicht von ihren marinen Nachbarn; ein solches, nur durch eine zufällige Abweichung (random drift) verursachte Muster entspricht zunächst der grundsätzlichen Erwartung der Evolutionstheorie. Im Unterschied dazu aber zeigen geographisch benachbarte Meer- und Süßwasserökotypen an 81 verschiedenen Genompositionen erhebliche genetische Unterschiede – entsprechend der natürlichen Selektion, die in bestimmten Umgebungen bestimmte adaptive Mutationen favorisiert. Mit anderen Worten: Der Stichling muss an mehr als 81 verschiedenen Genompositionen bestimmte genetische Varianten aufweisen, um sich an Süßwasserumgebungen anzupassen.
Eine Wiederverwendung bereits bestehender genetischer Variabilität ist wichtig für die Anpassung an den Lebensraum
Diese Untersuchungen erbrachten mehrere überraschende Ergebnisse. Erstens: Die genomischen Unterschiede zwischen Meer- und Süßwasserökotypen haben sich parallel zu ihrer Verbreitung entwickelt. So unterscheiden sich beispielsweise die Meer- und Süßwasserstichlinge in Schottland hinsichtlich der gleichen Genmutationen an den gleichen Genompositionen wie die Meer- und Süßwasserfische in Kalifornien. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass es sich bei über 35% der adaptiven Stellen im Genom um eine parallele Wiederverwendung einer bereits bestehenden genetischen Variante handelt (Abb. 3; [6]). Diese sogenannten adaptiven vorgefertigten Bausteine sind bei allen Süßwasserpopulationen weltweit zu finden. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass diese Bausteine mittels einer Hybridisierung mit benachbarten Meerwasserfischen zwischen Süßwasserpopulationen transportiert und mit geringer, aber nachweisbarer Häufigkeit von Meerwasserfischen in neue Süßwasserumgebungen übertragen werden.
Einzelne Meerwasserökotypen, die süßwasser-adaptive Bausteine aufweisen, wurden mit einer Häufigkeit von unter 2% entdeckt [7]. Statt auf die Entstehung passender neuer Mutationen zu warten - ein Prozess, der Millionen Jahre dauern kann - kann sich eine Population auf diese Weise rasant schnell an eine neue Umgebung anpassen, vorausgesetzt, sie weist eine nützliche, bereits vorhandene genetische Variabilität auf oder hat Zugang dazu. Die Forscher untersuchen derzeit Tausende von marinen Stichlingen, um diejenigen Faktoren und Prozesse aufzuklären, die sich auf die Verfügbarkeit und Erhaltung der adaptiven genetischen Variabilität auswirken.
Anpassung über Mutationen in nichtkodierenden Teilen des Genoms
Das zweite überraschende Ergebnis: Der Großteil der Mutationen, die einer Umweltanpassung zugrunde liegen, entfällt auf nichtkodierende Teile des Genoms ([6]; Abb. 4). Im Gegensatz zu proteinkodierenden Genen macht die nichtkodierende DNA den Großteil des Genoms aus, beinahe 90%. Früher hielt man diese DNA-Bereiche für Junk-DNA. Aufgrund von Forschungsergebnissen der letzten 20 Jahre weiß man jedoch inzwischen, dass die nichtkodierende DNA wichtige Genschalter, sogenannte Regulierungselemente, enthält, die über Ort und Zeitpunkt des Ein- und Ausschaltens eines Gens im Organismus entscheiden.
Die mit den Stichlingen erhaltenen Ergebnisse lassen also darauf schließen, dass die Umweltanpassung überwiegend durch Mutation nichtkodierender Elemente erfolgt ist, die Zeitpunkt und Umfang der Gen- und Proteinexpression steuern, und nicht durch Änderung der Form oder Funktion von Proteinen selbst.
Diese Entdeckung hat potenzielle Auswirkungen darauf, wie Forscher die genetische Grundlage von umweltbedingten Erkrankungen des Menschen untersuchen sollten. Exom-Studien, also Untersuchungen der Gesamtheit der Exons eines Organismus und somit aller Genomabschnitte, die potenziell für Proteine kodieren, könnten nämlich bedeutende, nichtkodierende Mutationen übersehen, die aber umweltbedingten Krankheiten zugrunde liegen. Das Tübinger Labor analysiert heute mit einer Vielzahl molekularbiologischer Methoden diejenigen Mechanismen, mit denen nichtkodierende DNA-Elemente die adaptive Genexpression regulieren, die am Ende über Fitness und Überleben eines Individuums in speziellen Umgebungen entscheidet.
Genomische Inversionen und adaptive Genkassetten
Eine dritte überraschende Entdeckung aus dem Vergleich von Stichlingsgenomen war die komplette Umkehrung von drei riesigen Genstücken, sogenannten Inversionen. zwischen Meerwasser- und Süßwasserökotypen. Diese Inversionen verfügen über die sehr spezielle Eigenschaft, dass sie die beiden invertierten Chromosomenkopien voneinander getrennt halten können, indem sie die Mischung von Elternallelen bei der Weitergabe von Genen an den Nachwuchs unterdrücken; oder anders gesagt: die Rekombination wird verhindert. Dadurch entsteht eine Kassette von Genen, die von Generation zu Generation intakt und unberührt weiterzugeben ist. So ungewöhnlich dieser Prozess auch anmuten mag; er erweist sich als generelle Evolutionsstrategie der Anpassung: Stichlinge wie auch Gauklerblumen [8], Apfelfliegen [9] und Heliconius-Schmetterlinge [10], so war festgestellt worden, weisen in einem frühen Stadium der adaptiven Divergenz Inversionen auf, weil sie über das Potenzial verfügen, mehrere adaptive Mutationen als adaptive Super-Genkassette zu beherbergen.
Zur weiteren Erforschung der genetischen Grundlagen der Variabilität bei der Unterdrückung der Rekombination hat die Autorin kürzlich vom European Research Council (ERC) einen Consolidator Grant mit einer Förderung von zwei Millionen Euro erhalten.
Das Evolutionssupermodell der Stichlinge ist die Grundlage für eine kontinuierliche Weiterentwicklung des Forschungsgebiets
Der bescheidene dreistachelige Stichling erweist sich als ein Supermodell der Evolution – er bietet neue Einsichten in die molekularen Grundlagen von Anpassung und Speziation. Die adaptive Radiation dieses kleinen Fisches liefert zahlreiche biologische Replikate und wesentliche Einblicke in die molekularen Veränderungen, die es Organismen ermöglichen, neue Umgebungen schnell zu besiedeln, dort zu überleben und sich zügig anzupassen. Die Forschergruppe arbeitet begeistert daran, das immer größer werdende Stichlings-Gentoolkit zu ergänzen, mit dem sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse kontinuierlich weiter ausbauen können. Wissenschaftler können heute mit genomeditierenden Techniken untersuchen, wie spezielle adaptive Mutationen Phänotyp und Fitness eines Individuums beeinflussen. Sequenzierungstechnologien der nächsten Generation werden angewandt, um die Rekombination von Hot- und Coldspots im ganzen Genom zu identifizieren. Außerdem werden natürlich hybridisierende Populationen untersucht, um den Einfluss spezieller Mutationen auf die Hybridfitness zu verstehen und den Gen-Austausch zwischen entstehenden Meer- und Süßwasserarten zu begrenzen.