Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Die Krimkrise und die Reterritorialisierung internationaler Konflikte
Die Annexion der Krim durch die Russische Föderation hat alte Gewissheiten im Umgang der Staaten mit dem Völkerrecht infrage gestellt. Zwar ist, historisch gesehen und im globalen Kontext, die Anwendung von Gewalt zwischen Staaten keineswegs selten. Aber dass es zwischen europäischen Staaten im frühen 21. Jahrhundert zu einem bewaffneten Konflikt um Territorien hätte kommen können, war schlicht undenkbar. Der Forschung stellt sich daher die Aufgabe, den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland wissenschaftlich aufzuarbeiten und seine Bedeutung im Hinblick auf eine eventuelle Veränderung der Völkerrechtsordnung zu bewerten. Die These, dass nach einer Phase dynamischer Völkerrechtsentwicklung, die auf einem globalen Wertekonsens nach Beendigung der Ost-West-Spaltung etwa seit 1990 beruhte, gegenwärtig eine Krise, Stagnation oder Regression des Völkerrechts zu beobachten ist, lässt sich am Beispiel der Ukrainekrise überprüfen.
Die Ereignisse auf der Krim
Nach den ab Ende 2013 aufkommenden Protesten und Unruhen in der Ukraine wurde im Februar 2014 Präsident Viktor Yanukovych vom Parlament auf verfassungswidrige Weise seines Amtes enthoben und eine Übergangsregierung eingesetzt. Anlässlich dieses Regierungswechsels übernahmen ab Ende Februar 2014 bewaffnete Milizionäre sowie reguläre russische Truppen die Kontrolle auf der Krim. Diese sorgten dafür, dass binnen kürzester Zeit ein Referendum abgehalten wurde, in dem die Einwohner der Krim mit großer Mehrheit für einen Anschluss an Russland votierten. Kurz darauf wurde die Krim als unabhängiger Staat ausgerufen, der einige Tage später in einem Vertrag seine Angliederung an die Russischen Föderation vereinbarte.
Völkerrechtliche Einordnung
Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit diese Ereignisse mit geltendem Völkerrecht übereinstimmen. Hat Russland das völkerrechtliche Gewaltverbot verletzt und, falls ja, in welchem Ausmaß? Weil der tatsächliche Befehl Russlands über die auf der Krim agierenden Truppen lange ungewiss blieb, war es zunächst schwierig, die Verantwortung Russlands zu ermitteln.
Weitere wichtige Fragen betreffen das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ein Diskussionspunkt ist, ob dieses, wie von russischen Politikern und Wissenschaftlern postuliert, der Krim tatsächlich ein Recht zur Sezession verleiht. Grundsätzlich ist das Völkerrecht sezessionsfeindlich und gibt nur unter sehr engen Voraussetzungen ein Recht zur Loslösung von einem Staat. Das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht soll in erster Linie durch staatsinterne Mechanismen, zum Beispiel durch regionale Autonomie, verwirklicht werden. Im Hinblick auf die Krim sind nach praktisch einhelliger westlicher Auffassung die engen völkerrechtlichen Voraussetzungen, unter denen eine Sezession hingenommen werden muss, nicht erfüllt.
Weitere brisante völkerrechtliche Probleme wirft auch das Unabhängigkeitsreferendum vom März 2014 auf. Nach russischer Rechtsauffassung hat sich in dem eindeutigen Referendumsergebnis der freie Wille der Krimbevölkerung artikuliert, es handele sich um eine legale und legitime Ausübung des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts dieser Gruppe. Die Frage ist aber, welche völkerrechtlichen Vorgaben für derartige Referenden existieren und welchen Einfluss die Militärpräsenz auf die Rechtmäßigkeit der Abstimmung hat. Es fragt sich ferner, ob selbst ein perfektes demokratisches Verfahren, ohne vorausgehende schwerste Menschenrechtsverletzungen und unter Ausschöpfung diplomatischer Verhandlungen einen solchen Gebietswechsel überhaupt völkerrechtlich rechtfertigen könnte.
Die völkerrechtswissenschaftliche Aufarbeitung und das Phänomen des epistemischen Nationalismus
An der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine fällt auf, dass die rechtlichen Einschätzungen der Auseinandersetzung die geopolitischen Lager widerspiegeln. Kaum ein Wissenschaftler aus Westeuropa erachtet Russlands politischen Kurs als völkerrechtlich gerechtfertigt. Dagegen dominiert im russischen rechtlichen Diskurs die Überzeugung, dass die Angliederung der Krim mit völkerrechtlichen Prinzipien vereinbar sei. Für die Völkerrechtswissenschaft wird hier das übergreifende und grundlegende Problem eines epistemischen Nationalismus vordringlich. Es scheint, dass nicht immer universelle oder universalisierbare Argumente die konkreten Forschungsergebnisse bestimmen, sondern dass die Eingebettetheit der Sprecher in ihre jeweiligen nationalen Diskurse die wissenschaftlichen Aussagen entscheidend beeinflusst und außerdem bewusst oder unbewusst die politischen Ziele ihres Heimatstaates rechtlich stützt. Dies wiegt umso schwerer, als ein übergreifender akademischer Diskurs, insbesondere zwischen Ost- und Westeuropa, nur sehr schwach institutionalisiert ist. Zu den einflussreichen Publikationsorganen und Konferenzen zu allgemeinen völkerrechtlichen Themen, die über spezielle Regionalfragen hinausgehen, haben Wissenschaftler aus Osteuropa und auch aus dem globalen Süden nur wenig Zugang. Umgekehrt fehlen ihnen häufig die materiellen Ressourcen und das Know-how, um an ihren eigenen Institutionen Konferenzen mit universeller Beteiligung auszurichten. Aus diesem Grund stehen sich die divergierenden Interpretationen des Rechts oft abstrakt und häufig in einem verpolitisierten Schlagabtausch gegenüber.
Demgegenüber verlangt die Funktion des internationalen Rechts als einer globalen Ordnung einen genuin transnationalen akademischen rechtlichen Diskurs. In diesem Diskurs sollten völkerrechtliche Argumente allein dann als gültig anerkannt werden, wenn sie universal anwendbar und intersubjektiv nachvollziehbar sind, unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder sonstigen Zugehörigkeit der Diskursteilnehmer. Grundlegende Voraussetzung solcher Universalisierbarkeit ist ein freier Austausch über völkerrechtliche Konzepte.
Um einen solchen Austausch zu fördern, veranstaltete das Institut eine internationale Konferenz, die Wissenschaftlern aus Russland, der Ukraine sowie aus weiteren ost- und westeuropäischen Staaten Gelegenheit zur Diskussion bot. Die Ergebnisse dieses Austausches wurden in der Zeitschrift des Instituts veröffentlicht und sollen die aktuelle völkerrechtliche Debatte, vor allem auch in Russland und der Ukraine, dokumentieren und voranbringen [1].
Auswirkungen auf die Völkerrechtsordnung
Die russischen Aktionen auf der Krim und in der Ostukraine und die internationalen Reaktionen hierauf könnten sich auf die zentralen Teilgebiete des Völkerrechts auswirken, vom Gewaltverbot über das Recht des bewaffneten Konflikts bis hin zum Recht der Sanktionen. Außerdem stellen sich strukturelle Fragen der Völkerrechtsentwicklung und des wissenschaftlichen Diskurses.
Auf der einen Seite hat Russland das Völkerrecht sehr weit interpretiert, als es sich auf völkerrechtliche Tatbestände wie die Intervention zugunsten eigener Staatsangehöriger und das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen hat. Der juristische Fachdiskurs muss in dieser Hinsicht kritisch betrachtet werden. Die Unbestimmtheit und Offenheit der völkerrechtlichen Konzepte gibt Anlass, die Eigenständigkeit des Völkerrechtssystems gegenüber dem politischen System und die Bedeutung des Völkerrechts als Ordnungsfaktor der internationalen Beziehungen zu überdenken.
Das Vorgehen Russlands manifestiert einen neuen Typ des „nichtlinearen“ oder „hybriden“ bewaffneten Konflikts, bei dem gezielt irreguläre Kämpfer und die Zivilbevölkerung einbezogen werden. Die regulierende Wirkung der herkömmlichen Vorschriften des humanitären Völkerrechts ist hier schwächer, daher muss diskutiert werden, ob sie neu ausgelegt oder angepasst werden müssen. Der neue Konflikttyp wirft auch komplizierte Zurechnungsfragen auf, die für das Teilrechtsgebiet der Staatenverantwortung zentral sind. Schließlich müssen die Lenkung der Medien und die gezielte Manipulation der Blogsphäre, die mit massiven Einschränkungen von Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in Russland und anderen Staaten einhergehen, unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten näher analysiert werden.
Auf der anderen Seite sind mit den gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen schwierige Rechtsfragen verbunden. Diese Sanktionen sind mit den traditionellen Konzepten der Repressalie oder Gegenmaßnahmen kaum erfassbar. Sie riskieren Verletzungen von Menschenrechten der Sanktionsadressaten und Verstöße gegen das Welthandelsabkommen.
Die Makrostruktur des Völkerrechts ist betroffen, weil zurückliegende Ereignisse wie die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 von zahlreichen Beobachtern als Präzedenzfall für die Krim herangezogen werden. Dies wirft die Frage auf, wie die Bildung des Völkergewohnheitsrechts funktioniert. Wie können Rechtsbrüche von der Herausbildung neuer Praxis und Rechtsüberzeugung unterschieden werden?
Die vor allem seit den Neunzigerjahren beschriebene Entgrenzung der Regelungsgegenstände des Völkerrechts, die Durchlässigkeit staatlicher Grenzen und die schwindende Bedeutung des physischen Territoriums als Machtbasis von Staaten scheinen durch die russische Politik infrage gestellt. Die Schaffung neuer Einflusssphären und „eingefrorener“ Territorialkonflikte könnte die rechtliche Relevanz von Territorium und Grenzen wieder steigen lassen. Es stellt sich somit die allgemeine Frage, wie völkerrechtliche Konfliktlösungsmechanismen mit dieser Reterritorialisierung von Konflikten umgehen können und inwieweit sie angepasst werden sollten.
Literaturhinweise
Nomos, Baden-Baden (2015)