Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für Psychiatrie

MicroRNAs – klein aber oho!

Autoren
Chen, Alon
Abteilungen
Abteilung für Stress Neurobiologie und Neurogenetik
Zusammenfassung
MicroRNAs, kleine Ribonukleinsäure-Moleküle, steuern die Aktivität der Gene in unseren Zellen. In den Nervenzellen im Gehirn beeinflussen sie so unser Verhalten oder unsere Reaktion auf die Umwelt – zwei Prozesse, die bei psychischen Erkrankungen fehlreguliert sind. Jetzt wurden microRNAs gefunden, die beispielsweise als körpereigenes Antidepressivum wirken oder einen angemessenen Umgang mit stressigen Situationen ermöglichen. Ein besseres Verständnis der Funktion von microRNAs bei psychischen Beschwerden wird dabei helfen, neue Ansätze für Diagnostik und Therapie zu entwickeln.

Psychische Krankheiten und Epigenetik

Psychische Beschwerden sind aktuell eines der größten gesundheitlichen Probleme, fast jeder Fünfte erkrankt mindestens einmal im Leben an einer Depression. Innerhalb eines Jahres erkrankt jeder Zehnte weltweit an einer Depression und allein in Deutschland leiden laut einer aktuellen Erhebung des Robert Koch-Instituts derzeit etwa ein Drittel der Einwohner an mindestens einer psychischen Krankheit.

Bei den meisten psychischen Beschwerden spielen Erbfaktoren eine große Rolle. Aber die angeborene, genetische Veranlagung allein führt nicht zwangsläufig dazu, dass man eine psychische Krankheit entwickelt. Viel entscheidender für den tatsächlichen Ausbruch sind beispielsweise negative Ereignisse in der Kindheit [1] oder Stress im Erwachsenenalter. Manche Menschen erkranken, andere scheinen gegen solche negativen Einflüsse resistent zu sein. Psychische Krankheiten werden also durch ein komplexes Zusammenspiel von genetischen Faktoren und persönlichen Erlebnissen ausgelöst, wobei jeder Mensch unterschiedlich reagiert.

Sowohl negative als auch positive Erlebnisse oder Umweltfaktoren können zwar die Gene an sich nicht verändern, aber sie wirken sich auf einer Regulationsebene darüber aus, man spricht von Epigenetik. Das epigenetische Muster einer Zelle ist nicht starr, sondern kann sich im Laufe der Zeit verändern. Epigenetische Mechanismen regulieren, in welchem Maße Gene in einer Zelle abgelesen und die gespeicherten Informationen in Proteine und Enzyme übersetzt werden. Beispielsweise können DNA-Abschnitte direkt durch chemische Gruppen markiert werden. Das hat zur Folge, dass Gene in der näheren Umgebung weniger aktiv sind. Aber es gibt auch Mechanismen, die verhindern, dass eigentlich aktive Gene in Proteine übersetzt werden. Dies geschieht durch kleine RNA-Moleküle, die microRNAs.

Was sind microRNAs?

MicroRNAs sind kurze RNA-Moleküle, die im Gegensatz zu gewöhnlichen RNA-Strängen nicht in Proteine übersetzt werden. Ihre Funktion besteht darin, sich an andere RNA-Moleküle anzulagern und dadurch deren Übersetzung in Proteine zu verhindern oder sogar den Abbau der RNA-Moleküle zu bewirken (Abb. 1).

Von einem Gen, das für eine microRNA kodiert, wird im Zellkern ein langer RNA-Strang abgelesen (Abb. 2). Dieses Primärtranskript lagert sich zu einer Schleife zusammen und bildet dabei doppelsträngige Teilbereiche aus. Bestimmte Enzyme schneiden in einem weiteren Schritt die freien Enden des Primärtranskripts ab, so dass eine verhältnismäßig stabile, doppelsträngige Vorläufer-microRNA mit einer Länge von etwa 70 bis 110 Basenpaaren entsteht. Die Vorläufer-microRNA kann nun aus dem Zellkern in den Zellkörper transportiert werden. Dort schneidet wiederum ein spezialisiertes Enzym ein nur etwa 20 bis 22 Basen langes Stück aus dem Doppelstrang heraus. Diese fertige microRNA kann sich nun an die komplementäre Zielsequenz auf anderen RNA-Molekülen anlagern [2].

Die microRNA muss nur in sechs bis acht Nukleotiden mit der Zielsequenz tatsächlich übereinstimmen. Dadurch kann sich eine microRNA oft an viele verschiedene proteinkodierende RNA-Moleküle anlagern und so die Aktivität vieler Gene gleichzeitig regulieren. Beim Menschen scheinen über 60 Prozent aller Gene durch solche microRNAs beeinflusst zu werden [3].

MicroRNAs bei psychischen Erkrankungen

Seit ihrer Entdeckung im Jahre 1993 wurden immer neue microRNAs und ihre Bedeutung für unzählige biologische Vorgänge beschrieben. Etwa 70 Prozent der bekannten microRNAs finden sich im Gehirn – bei Wirbeltieren konnte bisher in keinem anderen Gewebe eine so große Vielfalt nachgewiesen werden. Im Gehirn steuern die microRNAs als zentrale Schaltstelle die Aktivität vieler wichtiger Gene und beeinflussen unter anderem die Struktur, Funktion und Verknüpfung der Nervenzellen. Auf diese Weise haben die microRNAs natürlich auch Auswirkungen auf unser Befinden oder Verhalten – zwei Bereiche, die bei psychischen Erkrankungen fehlreguliert sind.

Aktuell wurden in groß angelegten genetischen Studien unterschiedliche microRNAs mit verschiedenen psychischen Krankheiten wie Schizophrenie, Depression oder bipolaren Störungen in Verbindung gebracht [4]. Es ist also naheliegend, nun die Funktion von microRNAs bei diesen Krankheiten genauer zu untersuchen.

MicroRNA 135 – ein Schutzschild vor Depression

Wissenschaftler des „Max Planck – Weizmann Labors für experimentelle Neuropsychiatrie und Verhaltensneurogenetik“ haben die Aufgabe von microRNAs in Nervenzellen untersucht, die Serotonin produzieren. Serotonin ist ein Botenstoff, der beispielsweise Appetit, Schmerzempfinden oder Gefühlsregungen beeinflusst. Im allgemeinen Volksmund ist Serotonin als „Glückshormon“ bekannt. Störungen im Serotoninsystem werden generell mit Depression oder Angststörungen in Verbindung gebracht.

Die Forscher haben nun eine spezielle microRNA identifiziert (miR135), die im Gehirn und im Blut von depressiven Patienten im Vergleich zu Kontrollprobanden in geringeren Mengen vorkommt. Diese mircoRNA reduziert die Herstellung von zwei Proteinen aus dem Serotoninsystem [5]. Das eine Protein, der Serotonintransporter SERT, ist ein Angriffspunkt vieler derzeit verfügbarer Antidepressiva. SERT transportiert freies Serotonin zurück in die Zellen, wo es abgebaut wird und nicht mehr wirken kann. Das zweite Protein, der Rezeptor HTR1A, hemmt Nervenzellen, die sonst eigentlich Serotonin produzieren würden. Da durch den Einfluss der miR135 weniger SERT und HTR1A im Gehirn vorhanden sind, steigt der Serotoninspiegel an. MiR135 wirkt daher wie gängige Antidepressiva, nach deren Einnahme die Symptome einer Depression abklingen.

In Studien mit Mäusen haben die Wissenschaftler beobachtet, dass der Spiegel an miR135 nach der Gabe von Antidepressiva sowohl im Blut als auch im Gehirngewebe steigt. Mäuse, die in den serotoninproduzierenden Nervenzellen erhöhte Mengen an miR135 aufwiesen, waren gegenüber chronischem sozialen Stress weniger anfällig. Sie ließen sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Umgekehrt zeigten Mäuse mit niedrigerem miR135-Spiegel depressionsähnliche Verhaltensweisen und auch Antidepressiva wirkten schwächer. MiR135 wirkt also wie ein körpereigenes Antidepressivum (Abb. 3).

MicroRNA 19b – Stressbewältigung im Gehirn

In chronisch gestressten Mäusen haben die Wissenschaftler in spezifischen Gehirnregionen erhöhte Mengen der microRNA 19b (miR19b) gefunden [6]. MiR19b wirkt dabei unter anderem auf den Adrenorezeptor beta-1 (ADRB1). Wenn mehr miR19b vorhanden ist, wird weniger ADRB1 produziert. Adrenorezeptoren werden durch das natürliche Stresshormon Noradrenalin aktiviert und sind auch für die Verfestigung von Erinnerungen entscheidend.

Chronischer Stress wirkt sich sowohl auf unsere Stimmungslage als auch auf unser Verhalten aus. Beeinflusst demnach eine erhöhte Menge an miR19b die Erinnerung an stressige Ereignisse? Mäuse mit mehr oder weniger miR19b in bestimmten Gehirnbereichen – also mit verringerten oder erhöhten Mengen an ADRB1 – verhielten sich zwar nicht ängstlicher als ihre Artgenossen, aber Mäuse mit mehr miR19b erinnerten sich besser an zuvor erlebte stressige Situationen, die durch ein akustisches Signal angekündigt wurden. Ertönte das Signal erneut, erschraken sie weniger. Die Regulierung des Rezeptors ADRB1 durch miR19b-Moleküle ermöglicht also eine angemessene Reaktion auf stressige Situationen.

Von der Maus zum Menschen

Viele Forschungsergebnisse legen nahe, dass microRNAs als epigenetischer Mechanismus unser Befinden und Verhalten beeinflussen. Die Menge bestimmter microRNAs variiert je nachdem, was gerade um uns herum geschieht – je nachdem, welchen Umweltfaktoren wir ausgesetzt sind oder was wir persönlich erleben. Das hat wiederum zur Folge, dass sich die Aktivität vieler Gene und damit unser Verhalten verändern. MicroRNAs wie beispielsweise miR135 und miR19b könnten also neue Einblicke in die Entstehung, die Anfälligkeit und Heterogenität stressbedingter psychischer Beschwerden geben.

Da microRNAs relativ stabil sind, kann man sie beim Menschen auch in Blutproben nachweisen. Wie bereits oben beschrieben, wurden beispielsweise übereinstimmend mit den Daten aus Tiermodellen in Blutproben von depressiven Patienten vergleichsweise wenige miR135-Moleküle gefunden. Nach Behandlung mit Antidepressiva nahm die Menge wieder zu [5]. In einem Mausmodell zur Posttraumatischen Belastungsstörung nahm nur bei erfolgreicher Behandlung mit dem Antidepressivum Fluoxetin die Menge einer bestimmten microRNA ab. Sprach das Medikament nicht an, so blieb auch der microRNA-Spiegel konstant [7]. Der individuelle „microRNA-Fingerabdruck“ von Patienten könnte demnach künftig zur Diagnose oder Festlegung der Behandlungsstrategie herangezogen werden.

Es könnten auch Medikamente entwickelt werden, die gezielt die Menge an schützenden microRNAs erhöhen oder krankhaft erhöhte Mengen ausbalancieren. So könnten körpereigene Mechanismen zur Bekämpfung oder Vorbeugung von psychischen Krankheiten unterstützt werden.

Literaturhinweise

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