Neue Erkenntnis zur Vielfalt der Blattform
Pleiotropie beeinflusst die Gene, die für die Vielfalt der Blattformen verantwortlich sind
Viele erinnern sich sicherlich an die Kreuzungsquadrate, die uns in der Schule mit dem Konzept der genetischen Vererbung vertraut gemacht haben: Ein dominantes Allel für braune Augen bei beiden Eltern versteckt ein rezessives Allel, das blaue Augen erklärt. Die meisten Fälle genetischer Vererbung sind natürlich viel komplexer. Unterschiede in unserem Aussehen sind normalerweise nicht das Ergebnis eines einzigen Gens, sondern vielmehr der Interaktion mehrerer Gene über ein regulatorisches Netzwerk. Umgekehrt kann ein Gen nicht nur einen, sondern viele Aspekte der Entwicklung eines Organismus beeinflussen – und diese sind oftmals ohne Bezug zueinander. Dieses zweite Phänomen, das Wissenschaftler Pleiotropie nennen (aus dem Griechischen für „in viele Richtungen“) ist für eines der interessantesten Puzzle der evolutionären Biologie zentral. Ein in Genes and Development veröffentlichter Artikel bietet einen Einblick in dieses Phänomen.
Miltos Tsiantis, Direktor am Max-Planck-Institut für Pflanzenzüchtungsforschung, erklärt das Phänomen der Pleiotropie wie folgt: “Nehmen wir an, eine Vogelart entwickelt eine evolutionäre Veränderung seiner Flügelform und diese Veränderung macht sie schneller oder erleichtert das Fliegen. Wenn aber dieses Gen, das die Flügelform verändert, auch die Fußform änderte, sodass das Greifen nach Ästen schwieriger würde oder etwas Anderes änderte, das die Art unattraktiv für mögliche Paarungspartner machte, dann wäre die Änderung der Flügelform wahrscheinlich nicht erfolgreich und würde nicht in Populationen fortbestehen“, so Tsiantis. „Dies ist wichtig, da viele Gene nicht nur die Entwicklung eines Merkmals beeinflussen – in diesem Fall die Flügelform – sondern auch andere, und diese manchmal nichts miteinander zu tun haben.“ Pleiotropie ist also ein mögliches Hindernis für evolutionäre Veränderung: Deshalb muss die Evolution Wege finden, sie zu umgehen.
In der aktuellen Studie haben Miltos Tsiantis und die Erstautorin Madlen Rast-Somssich die sichtbaren Unterschiede zwischen zwei verwandten Pflanzenarten untersucht, um auf genetischer Ebene die Ursache der Unterschiede zu verstehen: Gibt es eine Logik der evolutionären Veränderung und kann diese Logik die genetische Grundlage von Veränderung vorhersagen? Ihr Experiment konzentrierte sich auf die unterschiedliche Blattform der Ackerschmalwand, die einfache, ungeteilte Blätter hat, und des Behaarten Schaumkrauts, dessen gefiederte Blätter sich in Blättchen unterteilen. Hier gibt es, anders als bei unserem Beispiel aus der Schulbuchgenetik mit braunen und blauen Augen, ein komplexeres genregulatorisches Netzwerk, das festlegt, ob ein Blatt eine einfache oder eine gefiederte Form hat.
Die Herausforderung, dieses Netzwerk zu entflechten war Teil des Vergnügens für Rast-Somssich. “Für mich ist es sehr aufregend, zu sehen, dass kleinste Veränderungen in regulatorischen Einheiten eines einzelnen Gens neue genetische Interaktionen in einer Art hervorrufen können, die aufgrund des Wissens über eine andere Art nicht vorhersehbar waren.”
Ein entscheidender Unterschied zwischen dem Blattnetzwerk, das in der Ackerschmalwand agiert, und dem des Behaarten Schaumkrauts ist das Auftreten von zwei Transkriptionsfaktoren, die nur in den Blättern des Schaumkrauts die gefiederte Blattform kontrollieren. Von diesen beiden Genen spielt eines eine dominantere Rolle und ist pleiotroper als das andere.
Die Autoren haben herausgefunden, dass das andere, weniger pleiotrope Gen, eine größere Fähigkeit entwickelte, zur evolutionären Veränderung der Blattform zwischen Arten beizutragen. Dieses Ergebnis unterstützt frühere Forschungsarbeiten, die zeigen, dass Veränderungen in genregulatorischen Sequenzen Pleiotropie umgehen können, indem sie eine Umwidmung von einflussstarken Regulatoren in Raum und Zeit ermöglichen“, sagt Miltos Tsiantis. „Diese gezielte Neuverwendung macht Veränderungen möglich, ohne alles durcheinander zu bringen. Die Entdeckung dieser Tendenz deutete darauf hin, dass den Veränderungen eine gewisse Vorhersagbarkeit innewohnt.“
Die Ergebnisse dieser neuen Studie weisen auf eine weitere Ebene der Komplexität hin, um die unser Verständnis der Mechanismen wie Evolution funktioniert erweitert wird. Sehr starke Entwicklungsregulatoren sind weniger in der Lage, sich zu verändern und neue Eigenschaften anzunehmen, als weniger starke Alternativen.
Zumindest in diesem Fall scheint das weniger starke Protein mehr Spielraum zu haben, verschiedenartigere Varianten hervorzubringen. Somit ist dies ein zweiter Weg, um Pleiotropie zu umgehen. Möglicherweise erzeugen die weniger starken Regulatoren eher neue Verbindungen in genregulatorischen Netzwerken, indem sie die Aktivitäten kleinerer Unternetzwerke verbinden, die vorher nicht miteinander verknüpft waren, und tragen auf diese Weise zu einer anderen Funktion im Gewebewachstum bei. Dies legt nahe, dass Diversität nicht einfach aus der Neuverwendung konservierter Genfunktionen generiert wird, sondern auch, vielleicht sogar mindestens in gleichem Maße, aus den neuen Verbindungen, die diese Gene in existierenden Netzwerken bilden.