Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
Zufällige Fokussierung von Tsunami-Wellen
Tsunamis, große Wasserwellen mit einigen zehn bis mehreren hundert Kilometern Wellenlänge, zählen zu den zerstörerischsten Naturereignissen. In der Regel werden sie von Seebeben oder Erdrutschen ausgelöst und transportieren die dort freigesetzte Energie mit Geschwindigkeiten von mehreren hundert Kilometern pro Stunde über tausende von Kilometern hinweg zu den Küsten. Da Erdbeben (also auch Seebeben) bisher nicht vorhersagbar sind, sind auch Langzeitvorhersagen von Tsunamis nicht möglich. Jedoch sind die Geschwindigkeiten von seismischen Wellen noch sehr viel höher als die von Tsunamis, so dass zwischen der Detektion eines Seebebens und dem Auftreffen des Tsunamis an einer Küste mehrere Stunden vergehen können. Diese Zeitspanne lässt sich für Tsunami-Vorhersagen nutzen.
![Abb 1 (a): Die Rekonstruktion des Tsunami am 11.3.2011 im Pazifischen Ozean durch das NOAA Center for Tsunami Research zeigt deutlich ausgeprägte Höhenschwankungen des sich ausbreitenden Tsunamis. Copyright: National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) (b) Die Computersimulation eines fiktiven Tsunamis in einem Gebiet des Indischen Ozeans, in dem die Ozeantiefe nur um einige Prozent schwankt, zeigt starke Fokussierung in astartige Strukturen. Der obere Einschub zeigt eine Vergrößerung des Höhenprofils des Ozeanbodens (in dem durch ein kleines hell-blaues Quadrat auf dem Globus gekennzeichneten Gebiet). Die Datenquelle für die Meeresbodentopographie ist die GEBCO Datenbank (www.gebco.net).](/11778658/original-1528805804.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6MjQ2LCJvYmpfaWQiOjExNzc4NjU4fQ%3D%3D--65f02da465582ebb395fa4ff0a0c03b6bbb8eb00)
Messungen und Rekonstruktion vergangener Ereignisse haben jedoch gezeigt, dass sich Tsunamis nicht gleichmäßig in alle Richtungen ausbreiten (Abbildung 1a): Ein Tsunami kann während seiner Ausbreitung ausgeprägte Höhenschwankungen entwickeln, deren Verständnis essenziell ist für verlässliche Vorhersagen zum Schutze der Küstenbewohner.
Tsunami-Vorhersagen und Fokussierungsmechanismen
Diese Schwankungen in der Tsunami-Höhe gilt es also für verlässliche Vorhersagen vorauszuberechnen. Hierzu sind jedoch nicht nur schnelle Computer und ausgeklügelte Algorithmen notwendig: Nur ein tiefes physikalisches Verständnis der Streu- und Fokussierungsmechanismen in der Tsunami-Ausbreitung wird es erlauben, die zugrundeliegenden Modelle zu optimieren und die notwendige Verlässlichkeit der Vorhersagen zu gewährleisten.
Die Streu- und Fokussierungsmechanismen sind vielfältig. So können große Unterwasserberge für Tsunamis wie Brenngläser wirken, oder ein gekrümmter Anregungsbereich kann den Tsunami wie ein Hohlspiegel fokussieren. Die Studie von Henri Degueldre und Kollegen am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation [1] zeigt einen neuen Fokussierungsmechanismus bei der Ausbreitung im tiefen Ozean auf, der eine besonders große Herausforderung für die Modelle darstellt.
Branched flow – kleine Ursache, große Wirkung
Die Geschwindigkeit eines Tsunami ist proportional zur Quadratwurzel der Ozeantiefe. Somit wirken Schwankungen in der Tiefe für Tsunamis wie Änderungen des Brechungsindexes bei der Ausbreitung von Licht. So erklärt sich auch, dass große Unterwasserberge wie Sammellinsen und Täler wie Streulinsen wirken können. Degueldre und Kollegen haben mithilfe von Computersimulationen gezeigt, dass das Zusammenwirken vieler kleiner Schwankungen in der Ozeantiefe (von nur einigen wenigen Prozent!) zur Fokussierung der Tsunamis in verästelte Strukturen führen kann, wie Abbildung 1b illustriert. Die Energiedichte kann in den einzelnen Ästen um den Faktor 10 variieren.
![Abb. 2: Auswirkung der Flussverästelung auf Tsunamivorhersagen (a) Die Topographie des Meeresbodens in dem Bereich des Indischen Ozeans, der in Abbildung 1b durch das rote Quadrat auf dem Globus gekennzeichnet ist. Die Daten sind der GEBCO Datenbank entnommen. (b) Der Topographie aus (a) wurden im Computer zufällige Fluktuationen mit einer Standardabweichung von 4% der Meerestiefe überlagert. (c) Das gleiche Tsunamiereignis wie in Abbildung 1b in der Topographie (a). (d) In der kaum von (a) zu unterscheidenden Topographie (b) wird der Tsunami in ganz andere Richtungen fokussiert, siehe auch (e). (e) Intensität des Tsunamis im Verhältnis zur mittleren Intensität entlang des grünen bzw. des roten Schnittes (im Abstand von 1200 km von der Quelle) in (c) und (d). Die Flussverästelung führt in beiden Topographien zu lokaler Erhöhung der Tsunami Energiedichte auf das fünf- bis sechsfache, jedoch an völlig unterschiedlichen Positionen.](/11778820/original-1528805803.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6MjQ2LCJvYmpfaWQiOjExNzc4ODIwfQ%3D%3D--64dec8cd1798eeccb3be0dfe9242ab35bc17a07b)
In der Tat handelt es sich hierbei um ein lange übersehenes, universelles Verhalten der Wellenausbreitung in schwach ungeordneten Medien. Ähnliche Strukturen wurden zum Beispiel auch bei der Ausbreitung von Elektronen in zweidimensionalen leitenden Schichten von Halbleiterbausteinen auf Längenskalen von nur einigen tausendstel Millimetern gefunden [2]. Dort werden die Elektronenwellen von schwachen Störstellen im Halbleiter gestreut. Das Zusammenspiel vieler schwacher Störstellen führt auch hier zur Flussverästelung (branched flow) im Elektronenstrom.
Sowohl für Tsunamis als auch für Elektronen ist dieser Effekt der Flussverästelung verbunden mit dem zufälligen Auftreten von Kaustiken, wie man sie aus der Optik kennt. Kaustiken sind Kurven entlang derer sich die Anzahl der Lösungen der Strahlengleichungen der geometrischen Optik abrupt ändert und die Strahlendichte daher unendlich groß wird. In der Wellenoptik (und auch für Tsunamis und Elektronenwellen) werden die Amplituden der Wellen zwar nicht unendlich, aber Kaustiken führen zu ausgeprägten Maxima und extremen Ereignissen. Die Gruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation untersuchte sowohl theoretisch und als auch numerisch die Statistik solcher zufälliger Kaustiken in der Tsunami-Ausbreitung. Sie simulierten Tsunamis in einer großen Anzahl von Computer-generierten (künstlichen) Topographien des Ozeans mit kontrollierten statistischen Eigenschaften. Aus den Ergebnissen kann man beispielsweise folgern, dass selbst Meerestiefenschwankungen von nur 1 bis 2 % im Abstand von einigen wenigen Tausend Kilometern vom Ort des Seebebens zu Kaustiken führen können – Entfernungen die für Tsunami-Vorhersagen sehr relevant sind.
Folgenschwer für Vorhersagen
Welche Auswirkungen die Flussverästelung somit auf die Vorhersagbarkeit von Tsunamis haben kann, illustriert Abbildung 2. Hier wird die Simulation aus Abbildung 1 verglichen mit der Ausbreitung in einer leicht veränderten Ozeanboden-Topographie. Im Computer wurden der gemessenen Topographie dafür zusätzliche Fluktuationen überlagert, die jedoch kleiner sind als die Messungenauigkeit der Ozeantiefe. Beide Topographien a) und b) könnten also den wahren Ozeanboden beschreiben. Die Tsunami-Simulationen zeigen jedoch völlig andere Verästelungen!
Das Verständnis des Mechanismus der Flussverästelung ist daher essenziell in der Betrachtung der Verlässlichkeit von Tsunami-Vorhersagen, die in vielen Fällen demnach nur von statistischem Charakter sein können.
Anisotrope Flussverästelung
Die Fluktuationen und Strukturen in der Topographie des Ozeanbodens sind in der Regel nicht gleichmäßig in allen Richtungen geformt, sondern haben unterschiedliche typische Längenskalen in unterschiedlichen Richtungen: sie sind anisotrop. Das Studium der Flussverästelung von Tsunamis führt daher auch zu neuen Erkenntnissen in anderen Gebieten der Physik, wie der Optik oder Halbleiterphysik, denn die Anisotropie des Mediums erzeugt überraschend komplexes Verhalten in der Wellenausbreitung, wie jüngste Studien aus dem Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation zeigen [3].