Zucker im Windkanal
Wissenschaftler können mit einem neuen Verfahren erstmals komplexe Zuckermoleküle sequenzieren
Einem Berliner Forscherteam um Kevin Pagel von der Freien Universität Berlin und dem Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft und Peter Seeberger vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam und der Freien Universität Berlin haben die Analyse von Kohlenhydraten entscheidend verbessert. Mit dem von Pagel und Seeberger entwickelten Verfahren können komplexe Zucker jetzt auch sequenziert werden. Es ist nun möglich schneller und einfacher geringste Verunreinigungen zu erkennen und damit die Qualitätskontrolle von synthetisch hergestellten Kohlenhydraten zu ermöglichen. Das Verfahren ist wichtig für die Entwicklung neuartiger Impfstoffe, Wirkstoffe und Diagnostika. Für die Glykobiologie ist dies ein ähnlicher Durchbruch wie die DNA-Sequenzierung für die Genetik.
Kohlenhydrate sind wesentlich komplizierter aufgebaut als die DNA oder Proteine. Während DNA-Moleküle aus vier Grundbausteinen und Proteine aus 20 Aminosäuren aufgebaut sind, existieren in der Natur mehr als 100 Zuckerbausteine. Darüber hinaus sind die DNA-Grundbausteine und Aminosäuren ausschließlich kettenförmig aneinandergefügt. Zucker können aber auch Verzweigungen und räumlich unterschiedliche Anordnungen (Anomere) bilden. Fast alle Zellen sind von einem Zuckermantel umgeben, der für Immunantworten, für die Identifizierung von Zellen untereinander und die Befruchtung von Eizellen verantwortlich ist. Zucker spielen also eine sehr wichtige Rolle in vielen natürlichen Abläufen.
Die ungeheure Vielfalt der aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff bestehenden Zuckermoleküle in der Natur kann aber für Chemiker bei der Forschung zum Problem werden, wenn sie spezifische Moleküle finden oder herstellen wollen. Denn einzelne Zuckerbausteine können auf sehr viele verschiedene Arten aneinander binden. Schon einfache Zuckermoleküle haben oft genau die gleiche Anzahl von Atomen, besitzen also die gleiche Masse; nur der Winkel einer Bindung unterscheidet sie. Diese anscheinend gleichen Moleküle, sogenannte Isomere, sind aber sehr unterschiedlich biologisch aktiv. Ein Beispiel sind Glukose und Galaktose. Die Summenformel ist identisch, C6H12O6, die Moleküle und deren biologische Wirkung sind es aber nicht.
Chemiker behelfen sich bei der Identifikation von Molekülen immer mit Tricks, denn auf der atomaren Ebene können die meisten Moleküle nicht beobachtet werden. Zum Beispiel ermitteln sie die Masse von Molekülen, untersuchen ihre magnetischen Eigenschaften oder das Licht, das sie aussenden, wenn die Substanzen verglühen. Damit kann man viele Verbindungen gut aufklären, aber all das hilft nicht, wenn es sich um Zucker-Isomere handelt, bei denen nur die Anordnung der Atome unterschiedlich ist. Es gibt drei Arten solcher Unterschiede in Zuckern aus der gleichen Anzahl von Atomen: Komposition, Konnektivität und Konfiguration, und alle drei waren bisher für Forscher nur mit sehr hohem Zeit und Materialaufwand und mit großen Molekülmengen feststellbar.
Die Berliner und Potsdamer Wissenschaftler haben dieses knifflige Problem jetzt durch die Kombination verschiedener Methoden gelöst: Sie nutzen die unterschiedliche Form der Moleküle. Die unterschiedlichen Formen erzeugen in einem gasgefüllten Raum, durch den die Moleküle geschickt werden, unterschiedlich starken Widerstand, vergleichbar mit dem sogenannten CW-Wert in einem Windkanal. Pagel und seine Kollegen kombinierten diese Messung der Ionenmobilität mit einer Messung der Molekülmassen. Dann glichen sie beide Informationen gegeneinander ab, um Unterschiede in der Komposition, Konnektivität und Konfiguration zu finden. Große Moleküle werden dabei in Bestandteile zerlegt, die Form der Bestandteile wird durch die Aufspaltung jedoch nicht verändert, so dass die Summe der Eigenschaften der Bestandteile das große Molekül genau beschreibt.
Kombiniert mit einer Datenbank, die derzeit erstellt und auch von anderen Wissenschaftlern bestückt werden soll, lässt sich das Analyseverfahren so auf eine immer größere Anzahl von Molekülen anwenden. Ist ein Molekül einmal systematisch identifiziert worden, kann es in Zukunft auch durch automatisierte Verfahren erkannt werden.
Praktischen Nutzen hat das neue Verfahren für die Qualitätskontrolle synthetisch hergestellter Zucker. Syntheseroboter reihen dabei Moleküle wie Perlen an einer Schnur auf. Bisher war es nur möglich, Unreinheiten zu entdecken, wenn sie mindestens fünf Prozent ausmachten. Mit der neuen „Windkanalmethode“ konnte diese Nachweisgrenze auf 0,1 Prozent verringert werden. „Die neue Methode ist schnell, zuverlässig und sehr sensitiv. Dadurch wird die Glykan-Sequenzierung einen riesigen Schub bekommen – ähnlich wie in der DNA Forschung, auch dort brachte die Gensequenzierung den Durchbruch“, erklärt Seeberger.
Die Glykobiologie beschäftigt sich mit biologisch aktiven Kohlehydraten. Sie ist eines der aussichtsreichsten Gebiete der Chemie und der Wissenschaft allgemein, Berlin ist weltweit eines der wichtigsten Zentren dieses Forschungsgebietes. Bis 1974 wurden sieben Nobelpreise in den Glykowissenschaften verliehen, dann jedoch wurde es ruhig um die Zucker, denn die Untersuchungsmethoden wurden nicht im gleichen Maß wie in der Genetik weiterentwickelt. Durch die neuen Ergebnisse hat das Forschungsgebiet einen weiteren großen Schritt zur technischen Nutzung gemacht.
DP/HR