Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme
Bakterielle Mikrokolonien als frühe Formen multizellulärer Organismen
Einleitung
Die Bekämpfung zunehmender Antibiotikaresistenz pathogener Bakterien ist eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Neben spontan auftretenden Mutationen der Bakterien ist die Bildung von Mikrokolonien und Biofilmen ein weiterer wichtiger Mechanismus, der das Überleben der Bakterien sichert. Mikrokolonien und Biofilme sind Zellaggregate, die aus einer Vielzahl einzelner Bakterien bestehen. Um neue Methoden zur Behandlung bakterieller Infektionen zu entwickeln, müssen zunächst die Mechanismen der Koloniebildung besser verstanden werden.
Interessanterweise ähnelt die Formierung bakterieller Kolonien stark der Bildung mutlizellulärer Organismen im Rahmen der embryonalen Entwicklung. In Embryonen wie auch in Zellverbänden wie Biofilmen und deren Vorläufern, den Mikrokolonien, erfüllen verschiedene Zellen verschiedene Aufgaben wie beispielsweise während der Fruchtkörperbildung [1].
Mikrokolonien des pathogenen Bakteriums Neisseria gonorrhoeae, welches die sexuell übertragbare Krankheit Gonorrhö verursacht, stellen eine frühe Form eines Biofilms dar. Bereits in dieser frühen Gemeinschaft von bis zu mehreren tausend Mitgliedern zeigen Zellen unterschiedliches Verhalten, was auf frühe Multizellularität hinweisen könnte.
Wie bewegen sich einzelne Bakterien und Kolonien über eine Oberfläche?
Zwei Zelleigenschaften sind essentiell für die Bildung von Mikrokolonien. Einerseits müssen sich die Zellen aktiv bewegen können, um zueinander zu finden. Andererseits müssen sie sich gegenseitig anziehen können, um stabile Kolonien zu formen. Bei vielen Bakterien erfüllen beide Aufgaben sogenannte Typ-IV-Pili. Dies sind fadenförmige, einige Mikrometer lange und teilflexible Filamente, welche aus der Zellmembran herauswachsen (siehe Abb. 1).
Pili verändern ihre Länge durch Wachstumszyklen, während derer sich Wachstum durch Polymerisierung und Zurückziehen durch Depolymerisierung abwechseln [2]. Weiterhin können Pili an eine Oberfläche wie Epithelzellen, Plastik, Glas oder Metall binden. Die Kombination des Anbindens an eine Oberfläche mit dem Zurückziehen der Pili baut Zugkräfte auf, dank derer sich die Zellen über eine Oberfläche bewegen können [2,3].
Die daraus entstehende Bewegung der N. Gonorrhoeae-Bakterien, auch twitching motility (Zitterbewegung) genannt, ist durch wechselnde Phasen von Bewegung und Stillstand charakterisiert [4]. Die Zusammenarbeit mehrerer Pili ermöglicht außerdem Phasen kontinuierlicher Bewegung über Distanzen, welche die typische Länge individueller Pili um ein Mehrfaches überschreiten [5].
Neben der Oberflächenbewegung ermöglichen Pili die Formierung von Mikrokolonien (siehe Abb. 1). Hier ist das Anbinden von Pili verschiedener Zellen untereinander entscheidend. Ziehen sich die Pili anschließend zurück, entstehen anziehende Zugkräfte zwischen den Zellen auf der Längenskale einzelner Pili [6, 7]. Diese Kräfte erreichen bis zu ein Nanonewton, was innerhalb der mikrobiellen Welt außergewöhnlich groß ist. Analog zu einzelnen Zellen können sich die so entstandenen Kolonien mittels Pili entlang einer Oberfläche bewegen [6].
Dynamik von N. gonorrhoeae-Mikrokolonien
Die Oberflächenbewegung von Zellen und Kolonien mithilfe von Pili auf einem Substrat wurde bereits ausführlich untersucht [4,5]. Im Kontrast gibt es wenig Einsichten zur Dynamik von Zellen innerhalb Mikrokolonien und zum Einfluss dieser Dynamik auf die Entstehung von Mikrokolonien.
Die Bildung von N. Gonorrhoeae-Kolonien auf einer Oberfläche ist durch drei Prozesse geprägt. Zuerst interagieren einzelne, frei bewegliche Zellen mittels Pili miteinander und bilden kleinere Kolonien [5]. Diese kleineren Kolonien sind außerdem in der Lage, sich über die Oberfläche zu bewegen [6] und durch Koaleszenz größere Kolonien zu bilden. Der dritte Prozess, die Zellteilung, geschieht auf einer Zeitskala von zwei bis drei Stunden. Da die charakteristische Zeitskala von Zellinteraktionen und Koaleszenz von Mikrokolonien sich im Bereich weniger Minuten befindet, spielt der Prozess der Zellteilung nur eine untergeordnete Rolle.
Die Koaleszenz von zwei Kolonien ist, entgegen dem naheliegenden Modell der Koaleszenz viskoser Flüssigkeitstropfen, durch mindestens zwei Zeitskalen charakterisiert. In-vitro-Experimente zur Koaleszenz zweier Mikrokolonien zeigen, dass sich zu Beginn beide innerhalb weniger Sekunden durch Pili anziehen und daraufhin binnen weniger Minuten eine ellipsoide Form annehmen (siehe Abb. 2). Die neu entstandene Kolonie nimmt nun, je nach Größe, über einen Zeitraum von ein bis zwei Stunden Kugelform an. Dies widerspricht dem von Wassertropfen zu erwartenden Verhalten, für welche die Herausbildung der ellipsoiden und der sphärischen Form die gleiche Zeitskala aufweisen.
Dies lässt sich mit der Annahme erklären, dass die Zellmobilität signifikant von der Position innerhalb der Kolonie abhängt. Während Zellen am Rand der Kolonie sehr beweglich sind, können sich Zellen im Kern der Kolonie kaum relativ zueinander bewegen.
Dieser Zusammenhang lässt sich experimentell feststellen, indem man den Diffusionskoeffizienten einzelner fluoreszent markierter Zellen als Funktion ihres Abstands vom Rand der Kolonie misst. Weitere Informationen über die Dynamik von N. Gonorrhoeae-Zellen innerhalb von Kolonien zu erhalten, ist mit den derzeit verfügbaren Mikroskopietechniken nicht möglich. Die mikroskopischen Details des Piliapparates und der durch ihn erzeugten Kräfte sind allerdings hinreichend bekannt, um stattdessen Schlüsselfragen in einem Computermodell zu studieren [8].
Dieses Modell simuliert die individuellen Zellen und deren Interaktion auf der Basis einzelner Pili. Anhand von Modellsimulationen lässt sich die Dynamik von Zellen in einer Kolonie auf verschiedenen Längenskalen untersuchen, angefangen bei der Bewegung von Zellen über eine Oberfläche bis hin zur Dynamik ganzer Mikrokolonien. Die Simulation der Koaleszenz zweier Mikrokolonien dient als erste Verifikation des Modells (Abb. 3). Außerdem kann der Diffusionskoeffizient einzelner Zellen als Funktion ihrer Position innerhalb einer Kolonie bestimmt werden. Beide Simulationen stimmen qualitativ mit den in-vitro-Messungen überein. Des Weiteren lassen sich der Mittelwert und die Variabilität in der Zahl der Piliverbindungen einer Zelle und die auf diese Zellen wirkende Kräfte in Abhängigkeit von der Zellposition bestimmen. Zellen am Rand einer Kolonie besitzen weniger Piliverbindungen, allerdings ist die Variabilität der Pilizahl und der Kräfte am Rand größer. Zusammen mit der sinkenden Dichte an Zellen in Randnähe erklärt dieses Verhalten den beobachteten Bewegungsgradienten.
Das vorgestellte Computermodell kann ebenfalls die Formation ganzer Kolonien simulieren. Insbesondere lässt sich damit studieren, wie eine Änderung der durch Pili verursachten Zell-Zell-Kräfte die innere Dynamik einzelner Kolonien beeinflusst und letztlich den gesamten Prozess der Koloniebildung manipuliert. Eine anfängliche Mischung von zwei Zellpopulationen aus normalen Zellen und solchen, deren Pili nicht in der Lage sind, sich zurückzuziehen, entmischt sich innerhalb der sich entwickelnden Kolonien. Während die veränderten Zellen am Rand der Kolonien zu finden sind, sammeln sich die normalen Zellen im Kern an (siehe Abb. 4). Die vorhergesagte Entmischung lässt sich ebenfalls experimentell beobachten, wenn die Depolymerisierung der Pili eines Teils der Zellen durch eine Mutation des Molekularmotors pilT gestört wird.
Dieses Verhalten lässt sich durch die differenzielle Adhäsionshypothese (differential adhesion hypothesis) erklären. Sie beschreibt die Entmischung eukaryotischer Zellen während der embryonalen Entwicklung durch unterschiedlich starke Adhäsion zwischen den Zellen [9]. Analoges Verhalten kann auch für N. Gonorrhoeae-Mikrokolonien gezeigt werden [10].
Die Unterschiede in der Beweglichkeit von N. Gonorrhoeae-Bakterien innerhalb von Mikrokolonien und die damit verbundenen Veränderungen mechanischer Kräfte und Kraftfluktuationen stellen ein differentielles Zellverhalten dar. Sie deuten auf eine frühe Form eines multizellulären Organismus hin und beeinflussen unter Umständen die Genexpression und den resultierenden zellulären Phänotyp. Die Parallele zur Hypothese der differenziellen Adhäsion, welche die Zelldifferenzierung während der Embryonalentwicklung erklärt, unterstreicht die Verbindung zu Prinzipien der Formierung multizellulärer Organismen. Das vorgestellte Modell bietet für die vielseitige biophysikalische Erforschung bakterieller Mikrokolonien eine unersetzliche Ergänzung zu modernen mikrobiologischen Experimenten. Neben der Simulation von N. Gonorrhoeae-Mikrokolonien lässt sich mit diesem Computermodell ebenfalls das Verhalten anderer pathogener Bakterien wie etwa Neisseria meningitidis oder Pseudomonas aeruginosa erkunden.