Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz (Standort Martinsried)
Wie körperliche Bedürfnisse und physiologische Zustände die sensorische Wahrnehmung verändern
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Einleitung
Sinneseindrücke wie Geruch und Geschmack bilden die Basis für unser Verhalten, unsere Entscheidungen und unsere Präferenzen. Sie sind entscheidend bei der Wahl unserer Nahrung und ermöglichen es, Toxine, Bakterien, Pilze oder sonstige Verunreinigungen zu vermeiden. Unsere Sinne verändern sich aber auch je nach physiologischem Zustand und Bedürfnislage. Hunger erhöht nicht nur unser Interesse an Nahrung, sondern sensibilisiert auch unseren Geruchs- und Geschmackssinn. Andere wichtige physiologische Veränderungen, zum Beispiel eine Schwangerschaft, beeinflussen ebenfalls die Wahrnehmung von Geruch und Geschmack. Eine große Frage in der neurobiologischen Forschung ist daher, wie der Körper mit dem Nervensystem kommuniziert, um unser Verhalten und unsere Nahrungspräferenzen an solche Zustandsveränderungen anzupassen. Nach wie vor ist unklar, wie die Sinnesveränderungen mit den physiologischen und metabolischen Bedürfnissen des Körpers verbunden sind. Diese Mechanismen haben die Martinsrieder Neurobiologen in der Fruchtfliege untersucht [3 - 6]. In zwei aktuellen Arbeiten konzentrierten sie sich auf Polyamine, die ein essentieller Nahrungsbestandteil mit wichtiger Bedeutung für den tierischen und menschlichen Körper sind [3, 4].
Polyamin-Rezeptoren fördern das Überleben und den Reproduktionserfolg
Polyamine tragen so charakteristische Namen wie Cadaverin, Spermin oder Putrescin (lateinisch putridus bedeutet faulig). Was für uns Menschen und viele Tiere gerade in höheren Konzentrationen durchaus unangenehm riecht, ist gleichzeitig überlebenswichtig. Ein Mangel an Polyamin wird mit neurodegenerativen Erkrankungen, Altern und Abnahme der Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht. Neue Daten zeigen, dass Polyamine als Nahrungsergänzung das Herz schützen und so lebensverlängernd wirken können. Zu viele Polyamine scheinen hingegen bei der Entstehung von Krebs eine Rolle spielen. Obwohl der Körper Polyamine zum Teil selbst herstellt und ein weiterer Teil durch Darmbakterien produziert wird, muss ein variierender Anteil über die Nahrung aufgenommen werden. Mit fortschreitendem Alter sinkt die körpereigene Produktion, sodass die Aufnahme von Polyaminen mit der Nahrung dann immer wichtiger wird.
Das führte zu unserer Hypothese, dass die Polyaminaufnahme an die aktuellen Bedürfnisse des Körpers angepasst sein müsste. Ob und wie Polyamine erkannt werden und wie der Körper die Aufnahme an die jeweilige Bedürfnislage anpasst, war noch weitgehend unerforscht. Anhand des Modells der Fruchtfliege untersuchten die Neurobiologen daher, wie Tiere Polyamine wahrnehmen und welchen Einfluss Körper und Physiologie haben [3].
Wie Verhaltensversuche zeigten, werden Fliegen vom Polyamingeruch stark angezogen; sie legen ihre Eier lieber auf polyaminreiche, ältere Früchte als auf frische. Durch eine Reihe von genetischen Experimenten fanden die Wissenschaftler heraus, dass Fliegen die Polyamine mit dem Geruchs- und Geschmackssinn wahrnehmen. Welche Geschmacks- und Geruchssinneszellen dabei aktiv wurden, zeigte sich unter dem Mikroskop (Abb. 1). Durch die Kombination der Verhaltensstudien und genetischen Untersuchungen konnten die Forscher drei Rezeptoren identifizieren, die zu derselben Rezeptorklasse gehören und in den Sinneszellen den Geruch und Geschmack von Polyaminen vermitteln. Sie gehören zu einer evolutionär sehr alten Klasse von Proteinen, den sogenannten ionotropischen Rezeptoren oder IRs. Diese sind mit Rezeptoren verwandt, die die synaptische Aktivität von Nervenzellen kontrollieren. Interessanterweise werden auch diese synaptischen Rezeptoren durch Polyamine, die unter anderem in synaptischen Vesikeln enthalten sind, beeinflusst. Warum bestimmte Geschmacks- und Geruchsrezeptoren nur spezifische Geschmäcke oder Gerüche erkennen, ist unklar. Die Ähnlichkeit zwischen IRs und synaptischen Rezeptoren könnte helfen, zu verstehen, warum Polyamine von IRs erkannt werden.
Die Ergebnisse zeigen, dass Fliegen eine polyaminreiche Nahrungsquelle zunächst über die beiden Rezeptoren IR76b und IR41a anhand des Geruchs finden (Abb. 2). Dort angekommen, erkennen die Geschmacksnervenzellen über den IR76b-Rezeptor zusammen mit einem Bitter-Rezeptor die Qualität der gefundenen Polyamine. Ähnlich wie bei uns Menschen scheint eine zu hohe Polyamin-Konzentration die Fliegen eher abzuschrecken. Sie fraßen oder legten ihre Eier nur dann auf polyaminreiches Futter, wenn zusätzliche Futterkomponenten wie zum Beispiel Zucker den bitteren Geschmack der Polyamine überdeckten.
Es ist denkbar, dass das Erkennen von Polyaminen mithilfe dieser Rezeptoren bereits früh in der Entwicklungsgeschichte das Überleben von Tieren verbessert hat, da wichtige Nahrungskomponenten gefunden und in der richtigen Menge aufgenommen werden konnten. Die Untersuchungen der Forscher zeigten auch, dass sich zumindest Mücken vom Geruch der Polyamine ähnlich angezogen fühlen wie Fliegen. Während vergleichbare Mechanismen somit auch bei anderen Tierarten möglich sind, könnten die Ergebnisse ebenfalls bei der Bekämpfung für den Menschen gefährlicher Arten - wie z. B. der Asiatischen Tigermücke (Stegomyia albopicta) - interessant sein.
Neuropeptide verändern Wahrnehmen und Verhalten
Polyamine werden besonders bei körperlicher Belastung vermehrt gebraucht. Eine besonders große Herausforderung für den Organismus ist die Trächtigkeit/Schwangerschaft. Um die heranwachsenden Nachkommen optimal zu versorgen und gleichzeitig die eigenen, gesteigerten Körperfunktionen aufrecht zu erhalten, muss sich die Ernährung auf die geänderten Anforderungen umstellen.
Ähnlich wie beim Menschen oder der Maus wirken sich zusätzliche Polyamine in der Nahrung positiv auf den Reproduktionserfolg von Fliegen aus [1]. So legten Tiere, die eine Nahrung mit hohem Polyaminanteil zu sich nahmen, mehr Eier und produzierten mehr Nachwuchs. Diese Daten legten die Vermutung nahe, dass tragende Weibchen ein höheres Interesse an dieser Art von Nahrung zeigen müssten. Tatsächlich fanden die Forscher, dass Fruchtfliegenweibchen nach der Paarung Nahrung mit einem höheren Polyamin-Anteil stärker bevorzugten als vor der Paarung. Eine Kombination aus Verhaltensstudien und physiologischen Untersuchungen ergab, dass die veränderte Anziehungskraft der Polyamine auf die Fliegen vor und nach der Paarung durch den Neuropeptid-Rezeptor SPR (Sex Peptid Rezeptor) und seinen Bindungspartner MIP (myoinhibitorisches Peptid) ausgelöst wird [4]. Überraschenderweise bewirkte die Aktivierung des SPR nicht nur, dass die Weibchen überhaupt Eier legten, wie in vorangegangen Studien bereits gezeigt wurde [2], sondern sie veränderte direkt die Nervenübertragung in den Sinneszellen, die für die Erkennung von Polyamin-Geschmack und –Geruch zuständig sind. Diese Veränderung war ausreichend, um die Verhaltensänderung der Tiere zu erklären.
Neuropeptide verändern die Reizbarkeit oder Übertragungsleistung von Nervenverbindungen. Sie spielen in vielen wichtigen Prozessen eine Rolle. Zum Beispiel verändert sich die Wahrnehmung in Tieren, wenn sie hungrig sind, oder sich in einem bestimmten emotionalen oder physischen Zustand befinden. Die neuen Ergebnisse zeigen nun, dass in trächtigen Weibchen deutlich mehr SPR-Neuropeptid-Rezeptoren in die Oberflächen von polyaminsensitiven, chemosensorischen Nervenzellen eingebaut werden. Polyamine werden so bereits am Eingang der Verarbeitungskette von Gerüchen und Geschmäckern verstärkt wahrgenommen. Die Bedeutung des Rezeptors zeigte sich vor allem, als die Forscher durch eine genetische Modifikation das SPR-Vorkommen in Geruchs- und Geschmacksneuronen nicht-trächtiger Weibchen steigerten: Die Veränderung reichte aus, um die Nervenzellen von jungfräulichen Fliegen stärker auf Polyamine reagieren zu lassen. Letztendlich führte dies dazu, dass die Weibchen ihre Vorlieben änderten und wie ihre verpaarten Artgenossinnen die polyaminreiche Nahrungsquelle anflogen.
Zusammenspiel von Körper und Gehirn
Die Ergebnisse der Neurobiologen weisen auf einen Mechanismus hin, wie körperliche Veränderungen (hier Trächtigkeit oder Schwangerschaft) die chemosensorischen Nervenzellen modifizieren und so die Wahrnehmung wichtiger Nährstoffe und die Reaktion darauf verändern können (Abb. 3). Welche Nervenverbindungen das Körperinnere, wie Darm und Reproduktionsorgane, mit dem Gehirn verbinden und wie sie genau kommunizieren, wollen die Forscher in weiteren Studien klären. Möglicherweise spielen Geschmacks- oder andere Rezeptormoleküle, die direkt Moleküle aus der Nahrung oder in den Reproduktionsorganen erkennen, eine Rolle. Da Geruch und Geschmack in Insekten und Säugetieren ähnlich verarbeitet werden, könnte ein entsprechender Mechanismus auch beim Menschen dafür sorgen, dass das heranwachsende Leben optimal versorgt ist.