Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für Kohlenforschung
Auf dem Weg zu sicheren chemischen Reaktionen: Die Cyanwasserstoff-freie Hydrocyanierung durch „Shuttle-Katalyse“
Einleitung
Produkte des täglichen Lebens profitieren häufig von Fortschritten in der synthetischen Chemie. Ein medizinischer oder bioaktiver Wirkstoff, diverse Oberflächen oder Farben durchlaufen chemische Prozesse, um eine optimale Funktion, Intensität oder einen optimalen Wirkungsgrad zu entfalten. Für die Produktion dieser spezialisierten Moleküle bietet die organische Synthese ein großes Spektrum an Methoden. Dabei unterscheidet man Verfahren zur Herstellung von Grundchemikalien und Feinchemikalien. Grundchemikalien sind Produkte wie Ethylen, Cumol oder Anilin und werden tonnenweise hergestellt. Ein Beispiel für eine industriell bedeutsame Methode bei Synthese solcher Grundchemikalien ist die Hydrocyanierung. Mit diesem Verfahren stellt die chemische Industrie das wichtige Zwischenprodukt der Polyamidherstellung, Adiponitril, her. Dabei wird 1,3-Butadien unter der Verwendung eines Nickel-Katalysators und von Cyanwasserstoff zu Adiponitril umgesetzt [1].
Obwohl die Hydrocyanierung in der Industrie vielseitig einsetzbar ist, wird diese nur selten in der Herstellung von Arzneimitteln, Agrochemikalien oder anderen Verbindungen genutzt. Diese Feinchemikalien haben ein geringeres Bedarfsvolumen als Grundchemikalien, und die Synthese verläuft größtenteils über mehrstufige, komplexere chemischen Reaktionen. Daher werden gefährliche Reaktionen, wie die Hydrocyanierung, in diesem Maßstab gemieden. Grund hierfür sind erhöhte Vorsichtsmaßnahmen die beachtet werden müssen und die damit einhergehende erschwerte Handhabung, wenn beispielsweise extrem toxische Verbindungen wie der als Blausäure bekannten Cyanwasserstoff zum Einsatz kommen. Die leicht flüchtige Flüssigkeit muss äußerst vorsichtig verwendet werden, da es durch Einatmen oder Penetration über die Haut zur Erstickung kommen kann: Cyanwasserstoff unterbricht die Zellatmung, indem er den zur Energiegewinnung notwendigen Sauerstoff verdrängt.
Dennoch sind Nitrile, also Moleküle, die eine Kohlenstoff-Cyanid-Bindung enthalten, maßgeblich in der organischen Synthese. Sie dienen als Vorprodukt für wichtige Moleküle wie Aldehyde, Carbonsäuren, Ester, Ketone, Amide, Amine oder Heterozyklen. Zudem kann der elektronenentziehende Effekt der gebundenen Cyano-Gruppe die Reaktivität des restlichen Moleküls stark beeinflussen. Eine Methode zur Alken-Hydrocyanierung, die sowohl ohne die toxische Blausäure wie auch ähnlich gifitigen Vorläufern, wie Acetoncyanhydrin oder Trimethylsilylcyanid auskommt, wäre also eine wertvolle Reaktion für die organische Synthese.
Bei genauerer Betrachtung der Thermodynamik der Hydrocyanierung eines Alkens zeigt sich, dass die Umwandlung eines Nitrils in ein Alken (Retro-Hydrocyanierung) thermodynamisch ungünstig ist. Eben diese Umwandlung könnte jedoch von Interesse für die organische Synthese sein, da Alkene zu Nitrilen komplementäre Eigenschaften aufweisen. Die unpolare funktionelle Gruppe toleriert eine Vielzahl an Reaktionsbedingungen zur Umwandlung von polaren funktionellen Gruppen und lässt sich in Bindungsbildungsreaktionen wie der Alkenmetathese einsetzen, die nicht über polare Funktionalitäten zugänglich sind. Eine Methode zur reversiblen Umwandlung des Nitrils in ein Alken würde sich demnach wesentlich auf die Synthese von Feinchemikalien auswirken.
Shuttle-Katalyse
Der reversible Transfer einer funktionellen Gruppe zwischen einem komplementären Reaktionspaar ist eine einflussreiche Strategie in der organischen Synthese. Dabei lassen sich im Laboralltag Verbindungen umgehen, die nach erhöhten Vorsichtsmaßnahmen verlangen oder schwierig zu handhaben sind.
Das prominenteste Bespiel dieser Methodik ist die Transfer-Hydrierung [2]. Sie beschreibt die gasfreie, Metall-katalysierte Übertragung eines formellen Wasserstoffmoleküls zwischen einem Alkohol und einem Keton, das wiederum zu einem Alkohol reduziert wird. Bei dem durch Noyori beschriebenen Verfahren wird ein formelles Wasserstoffmolekül durch einen Rhodium-Katalysator von 2‑Propanol abstrahiert und auf ein aromatisches Keton übertragen [3]. Diese Transferstrategie ließe sich im Prinzip zu anderen gasförmigen Reagenzien und Reaktionsklassen erweitern. Die verallgemeinerte Strategie wurde vor kurzem durch die Arbeitsgruppe von Bill Morandi am MPI für Kohlenforschung als Shuttle Catalysis beschrieben [4]. Für den Verlauf einer Shuttle-Katalyse sind drei Komponenten entscheidend. Das Reaktionspaar muss so konzipiert sein, dass das thermodynamische Gleichgewicht auf Seiten des gewünschten Produktes liegt. Dazu muss der Transfer der übertragenden Einheit (shuttled group) so zugänglich gemacht werden, dass ein Transfer möglich ist.
In der Transfer-Hydrogenierungsreaktion agiert der Alkohol dabei als Wasserstoff-Donator und das Keton als Akzeptor oder Substrat. Idealerweise verschiebt sich durch das Entziehen des Donators das thermodynamische Gleichgewicht in Richtung der Produkte. Dieser heißt daher auch Opferdonator (sacrificial donor).
Lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Transfer-Hydrierung und der Shuttle-Katalyse herstellen, so könnten die unterschiedlichsten Donatoren verschiedenste funktionelle Gruppen übertragen. Ein besonders interessanter Vorgang ist dabei der Transfer von giftigen oder hoch reaktiven Funktionalitäten, wie Cyanwasserstoff, Fluorwasserstoff oder Kohlenstoffmonoxid.
Cyanwasserstoff-freie Transfer-Hydrocyanierung
Inspiriert durch die H2-freie Transfer-Hydrierung hat unsere Forschungsgruppe eine reversible, gasfreie Übertragung von Cyanwasserstoff zwischen Alkenen und Nitrilen durch einen Transfer- Hydrocyanierungsmechanismus entwickelt [5]. Das Verfahren nutzt einen hoch reaktiven Nickel(0)-Komplex als Katalysator, welcher in situ aus Ni(cod)2 und dem zweizähnigen Phosphin-Liganden DPEPhos entsteht und sich bereits in klassischen Hydrocyanierungsreaktionen als aktiv erwiesen hatte. Grundsätzlich verfügen Nickel(0)-Komplexe über höhere Aktivität bezüglich einer oxidativen Addition als geläufigere Palladium(0)-Komplexe und sind demnach in der Lage, Kohlenstoff-Cyanid-Bindungen zu brechen. Neben dem Nickel(0)-Katalysator wird eine einfache Lewis-Säure als Co-Katalysator verwendet. Während in den meisten Reaktionen das brennbare Dimethylaluminiumchlorid verwendet wurde, kann Aluminiumchlorid den Co-Katalysator ersetzen.
Die Reichweite dieser Reaktion zeigt sich anhand der Verwendung verschiedenster Substrate, die die unterschiedlichsten funktionellen Gruppen tragen oder strukturelle Komplexität aufweisen. Die Reaktion war unter anderem in einer späten Synthesephase von komplexen Alkensubstraten aus Naturstoffen kompatibel und toleriert eine Vielzahl an funktionellen Gruppen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Anti-Markovnikov-Selektivität, die mit der Umsetzung mit Styrol-Derivaten beobachtet wurde, da diese im Gegensatz zu der traditionellen Hydrocyanierung steht. Im Zuge einer Anwendung in größerem Maßstab kann statt Isovaleronitril, das billigere Butyronitril eingesetzt werden.
Durch die Anpassung der Reaktionsbedingungen konnte neben der Hinreaktion auch die Retro-Hydrocyanierung gezeigt werden. Der Schlüssel für die Kontrolle des Reaktionsverlaufes lag bei der Anpassung der verwendeten Opferdonatoren. Im Falle der Hinreaktion war die Bildung eines gasförmigen Nebenproduktes (Isobuten) die treibende Kraft für den Verlauf der Reaktion. Der Antrieb der Rückreaktion ist die Verwendung von Norbornadien, ein überbrücktes Cycloalken. Die Addition von Cyanwasserstoff über eine Doppelbindung des Norbornadiens setzt Energie frei, da ein stark gespanntes Ringsystem in ein weniger gespanntes System überführt wird. Die Winkeldeformation der beteiligten Kohlenstoffatome ist geringer in einer C-C-Einfachbindung als in einer C-C-Doppelbindung.
Die Retro-Hydrocyanierung erweist sich vor allem bei der Forschung im Labormaßstab als nützlich, denn mit einer aktivierenden Nitrilgruppe lassen sich synthetisch anspruchsvolle C-C-Doppelbindungen chemisch realisieren. Der Nutzen der Reaktion wurde durch die Konstruktion einer chiralen, quaternären Vinylgruppe in einem Östrogenderivat veranschaulicht, eine Aufgabe die mit normalen Syntheseansätzen herausfordernd wäre.
Schlussfolgerung
Die Transfer-Hydrocyanierung beschreibt eine neuartige Katalysemethode, bei der bestimmte Funktionalitäten spezifisch übertragen werden. Neben Cyanwasserstoff und Wasserstoff-Molekülen können bereits Syngas, ein Gasgemisch aus H2 und CO, das zur Synthese genutzt wird, Magnesiumhalohydride oder auch Silylene-Gruppen übertragen werden [4]. Sie ermöglicht damit sichere Laborsynthesen und die Einführung instabiler, reaktiver Funktionalitäten unter milderen Reaktionsbedingungen. Das Potenzial dieses Systems drückt sich durch die Reversibilität der Reaktion aus und dürfte in der nahen Zukunft zu neuen sicheren, synthetischen Methoden führen.