Leserbrief zum Artikel "Hirnschnitte aus der NS-Zeit"
Martin Stratmann bezieht in einem Leserbrief in der "Süddeutschen Zeitung" Position zu einem Artikel, den die Zeitung am 26. April veröffentlicht hat.
Die Auslassung einer Vielzahl von Informationen in dem Artikel "Hirnschnitte aus der NS-Zeit" vom 26. April von Christina Berndt hinterlässt ein falsches Bild. Hier wird nicht nur manch "alter Wein in neuen Schläuchen" präsentiert, es werden auch umfassende Aktivitäten der Max-Planck-Gesellschaft negiert.
Die Max-Planck-Gesellschaft hat sich früher als andere deutsche Institutionen und Unternehmen der umfassenden Aufarbeitung ihrer Geschichte im Dritten Reich gestellt: 1997, also vor genau 20 Jahren, hat ihr damaliger Präsident Hubert Markl ein unabhängiges Forschungsprogramm eingerichtet, aus dem 28 Publikationen sowie weitere 17 Bücher zwischen 2000 und 2008 hervorgegangen sind. Auf einem Symposium 2001 entschuldigte sich Markl bei den überlebenden NS-Opfern und erklärte: "Die ehrlichste Art der Entschuldigung ist die Offenlegung der Schuld."
1982 waren alle Hirnschnittsammlungen und die dazugehörigen Patientenunterlagen des Kaiser-Wilhelm- bzw. Max-Planck-Instituts für Hirnforschung an die Universität Frankfurt (Edinger-Institut) übergegangen und wurden seither dort genutzt und verwaltet. 2001 gerieten nun mit einem Nachlass aus der Universität 100 Hirnschnitte in das Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, die eigentlich 1990 hätten bestattet werden sollen. Ob diese Hirnschnitte zurückgehalten oder schlichtweg nur übersehen wurden, kann heute niemand mehr sagen. Bei der Übergabe wurden ihre Bedeutung und der daraus resultierende Handlungsbedarf jedoch nicht erkannt.
2015 bin ich erneuten Hinweisen auf die Hirnschnitte umgehend nachgegangen. Die Max-Planck-Gesellschaft hat den Vorgang öffentlich gemacht und alle notwendigen Schritte eingeleitet. Dazu gehörte eine Gesamtrevision aller ggf. noch an anderen Max-Planck-Instituten befindlichen Humanpräparate aus der NS-Zeit sowie die Initiierung eines Opfer-Forschungsprojekts, das im Juni dieses Jahres beginnen wird.
Wir alle sind heute in höchstem Maße sensibilisiert und wissen, dass es eines verantwortungsvollen Umgangs mit dieser schwierigen Geschichte bedarf. So hat das Max-Planck-Institut für Hirnforschung nicht nur 2014 im Rahmen seiner 100-Jahr-Feier auf die Schattenseiten seiner Geschichte hingewiesen, es widmet ihr auch eine Ausstellung im Institutsgebäude und eine jährliche "Ethics in Science" Lecture am 28. Oktober, dem Tag, an dem 1940 in der Landesanstalt Görden in Brandenburg 38 Kinder ermordet wurden.
All das findet in dem Artikel keine Erwähnung. Stattdessen werden altbekannte Vorwürfe als Neuigkeit verkauft: Die Defizite der Max-Planck-Gesellschaft im Umgang mit ihrem historischen Erbe bis zu Beginn der 1990er-Jahre werden in dem Buch "Volk ohne Mitte" von Götz Aly ausführlich dargestellt.
Zum Erscheinen des Buches 2015 hatte das Archiv der Max-Planck-Gesellschaft den Autor zu einem öffentlichen Vortrag nach Berlin eingeladen. Und auch die Beisetzung der Hirnschnitte am Münchner Waldfriedhof weckte bereits in der "Frankfurter Rundschau" am 10. Juli 1990 kritische Stimmen: Die Bestattung der Schnitte wirke, "als wolle man das Thema ohne differenzierte Aufarbeitung möglichst schnell unter die Erde bringen". Das wird auch in dem zitierten Gutachten wiederholt, in dem aber jeder Hinweis auf die offizielle Gedenkfeier der Max-Planck-Gesellschaft 1990 fehlt.
In meiner Rede zur diesjährigen 100-Jahr-Feier am Max-Planck-Institut für Psychiatrie habe ich noch einmal betont, dass unsere Gesellschaft für viele Glanzpunkte in der modernen Wissenschaft steht, das Erbe der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft uns aber auch eine große Last aufbürdet. Die Verstrickungen sind immer noch nicht zur Gänze aufgedeckt. Ein von meinem Vorgänger Peter Gruss 2014 initiiertes Forschungsprogramm untersucht derzeit die Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft ab 1948 in all ihren Facetten – ihre Dynamik ebenso wie ihre ethischen Fehltritte.
Prof. Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft
Erschienen als Leserbrief in der „Süddeutschen Zeitung“, 3. Mai 2017. Online hier zu finden.