Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institut für medizinische Forschung
Zellen unterwegs: die kollektive Zellwanderung unter der Lupe
Einleitung
Die Wundheilung ist ein lebenswichtiger Prozess, um die Haut als äußerste Barriere des Körpers nach einer Verletzung oder Erkrankung wiederherzustellen. Komplikationen und Verzögerungen bei der Heilung können zu einer erhöhten Infektionsgefahr und verstärkter Narbenbildung führen. Mediziner suchen schon lange nach Möglichkeiten, um eine gute und schnelle Wundheilung zu fördern. Schlüssel hierzu ist das Verständnis der molekularen Mechanismen, welche die kollektive Zellmigration steuern.
Äußere Kräfte lenken Zellen
2011 gelang es Wissenschaftlern zu zeigen, dass mechanische Spannungen und Kräfte in einer Zellgruppe die Richtung bestimmen, in welche diese wandert. Doch wie nehmen Zellen äußere Zugkräfte wahr? Und wie ist diese Wahrnehmung mit der zellulären Reaktion, der gemeinsamen Bewegung, molekular gekoppelt? Dieser Frage widmete sich die Forschungsgruppe „Kollektive Zellmigration“ am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung.
Wie Zellen auf ihre Nachbarn reagieren
Beim Besiedeln einer Wunde verhalten sich die Zellen des Deckgewebes von Haut ähnlich wie die Läufer eines Marathonrennens: Schon bald treten einzelne Zellen hervor, welche die Gruppe als Vorläufer anführen, um die Wunde zu schließen. Pro Millimeter Wundrand wandern circa sechs Führungszellen voraus, jeweils gefolgt von einer Herde von 20 bis 30 Verfolgerzellen.
Für ihre Untersuchungen entwickelten die Max-Planck-Forscher ein Simulationsmodell der Wundheilung. Sie konstruierten durchsichtige Zellwachstumsunterlagen mit veränderbarer Geometrie und studierten die Zellen videomikroskopisch, während diese aus einem anfangs begrenzten Bereich herauswandern. Eine der ersten Beobachtungen war, dass die Form der Begrenzung (ob rund oder eckig) großen Einfluss darauf hat, welche Zellen sich zu Anführern entwickeln. Jene Zellen, die eine Anführer-Rolle übernehmen, waren gleichzeitig auch die Zellen, die aufgrund der Geometrie der Begrenzung den größten mechanischen Spannungen ausgesetzt waren.
Um die extrem kleinen physikalischen Kräfte zwischen Zellen in der Gruppe zu bestimmen, nutzten die Wissenschaftler die sogenannte Zugkraftmikroskopie. Bei diesem Verfahren setzen sie Zellgruppen auf eine Geloberfläche mit darin eingebetteten fluoreszierenden Mikroperlen. Wenn Zellen sich fortbewegen, üben sie eine bestimmte Zugkraft, sogenannte Traktion – bei Autoreifen spricht man von Bodenhaftung –, auf den Untergrund aus. Je stärker diese Kraft, umso mehr werden die fluoreszierenden Perlen aus ihrer Ausgangsposition verschoben, was man über Videomikroskopie beobachten kann. Die gemessenen Werte nutzten die Forscher, um die zwischen den Zellen wirkenden mechanischen Kräfte zu berechnen. Das Ergebnis liest sich wie eine Art Generalkarte sämtlicher Zugkräfte im Kollektiv.
Merlin sorgt für Ordnung
Gleichzeitig nahmen die Wissenschaftler verschiedene Proteine ins Visier und schalteten sie nacheinander molekularbiologisch aus. Dabei wurde klar, dass Zellen ohne ein funktionierendes Protein namens Merlin – ein Protein, welches bereits als Krebsinhibitor bekannt war – scheinbar orientierungslos und ohne Gruppenwahrnehmung umherirrten. Die geordnete Zellmigration kam zum Erliegen und das Kollektiv verlor sich. Interessanterweise zeigte sich auch, dass Merlin der einzige mechano-chemische Koordinator der kollektiven Migration ist. Das erklärt auch Merlins Rolle als Tumorsuppressor: einzelne Zellen können leichter in Gewebe eintreten können als geordnete Zellgruppen. Ist Merlin erblich defekt, können Tumoren leichter metastasieren.
Als nächstes verfolgten die Forscher die Verbreitung von Merlinprotein, welches sie zuvor mit Fluoreszenzfarbstoff angefärbt hatten, während der Zellmigration (Abb. 1). Weil Nachbarzellen im Kollektiv über Kontakte miteinander verbunden sind, ziehen sie aneinander, wenn sie sich bewegen. Dies bewirkt, dass Merlin seinen Platz in einem Proteinkomplex an der Zellmembran verlässt, ins Zellinnere diffundiert und eine Kaskade molekularer Prozesse lostritt. Ohne Merlins hemmende Anwesenheit ist Rac 1 (ein anderes Signalmolekül in der Zellmembran) frei, um zu agieren. Es sorgt dafür, dass sich für die Bewegung wichtige Zellfortsätze (Lamellipodien) in Zugrichtung bilden. Die hintere Zelle nimmt die Verfolgung auf und die Richtungsinformation wird als mechanische Spannung im Verfolgerfeld über bis zu zehn Zellen hinweg weitergegeben. Diese Distanz entspricht zugleich dem seitlichen Abstand zwischen neu entstehenden Anführer-Zellen am Wundrand. Aber wie, wann und wo wird eigentlich bestimmt, wer Anführer wird?
Was macht eine Zelle zum Anführer?
Um diese Frage zu klären, wurden gezielt die Zeiträume vor und während der Entstehung neuer Führungszellen untersucht: nach Entfernen der Barriere, und bevor auf gerade entstandenen zellulären Ausbuchtungen wieder neue Anführer hervortreten. Als man die Traktion der Zellen während dieser Phasen verglich, zeigte sich Erstaunliches. Lange bevor Anführer loswanderten, kam es hinter ihnen zu kurzzeitigen Steigerungen der Zugkräfte, sowohl gegenüber der Unterlage als auch zwischen Nachbarzellen (Abb. 2). Es scheint, dass die hinteren Zellen den zukünftigen Anführer regelrecht anstoßen, eine Vorläuferrolle anzunehmen. Zusätzlich bemerkten die Wissenschaftler, dass die Zellen hinter zukünftigen Anführern weniger dicht zusammengedrängt und dadurch mobiler als andere Zellen im Kollektiv sind. Die Erkenntnisse zur Anführer-Bestimmung wurden vor kurzem zur Publikation eingereicht.
Die Forschungsergebnisse haben weitreichende Bedeutung für das Verständnis der Wundheilung, der Embryonalentwicklung und der Ausbreitung von Krebs. Nachdem sie den mechanobiologischen Mechanismus hinter der kollektiven Zellmigration aufgeklärt haben, möchten die Forscher dieses Wissen für therapeutische Ansätze in der Medizin, wie zum Beispiel spezielle Wundpflaster, nutzen und auf künstliche Systeme übertragen.
Literaturhinweise
Nature Cell Biology 17, 276-87 (2015)