Die verborgene Struktur des globalen Wandels
Die neue Wissenschaft der Geo-Anthropologie denkt Bereiche wie Erdsystem, Digitalisierung und Energiewende zusammen
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts läuft die Erde heiß. Nicht nur die globale Durchschnittstemperatur ist seither um etwa ein Grad gestiegen – mit schon jetzt spürbaren Auswirkungen. Bevölkerungszahlen, weltweiter Handel und Konsum haben rasant zugenommen. In geologisch atemberaubendem Tempo wurden in den vergangenen Jahrzehnten natürliche Ressourcen geplündert, tropischer Regenwald und Arten vernichtet, Wasservorräte sowie Boden verbraucht und die geochemische Komposition von Atmosphäre und Ozeanen verändert.
Verstärkt, wenn nicht sogar angetrieben worden sei diese sogenannte „große Beschleunigung“ durch die Durchbrüche in der digitalen Informationstechnologie, so die These, die Christoph Rosol, Benjamin Steininger, Jürgen Renn und Robert Schlögl in ihrem Positionspapier formulieren. Der Blick auf die historische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte zeige, wie sich die Computerrevolution und der Beginn des expansiven Verbrauchs natürlicher Ressourcen gegenseitig bedingen. Die digitale Kommunikation und Vernetzung haben die weltweite Industrieproduktion, den Massenkonsum, Nahrungsmittelproduktion und Handel dramatisch gesteigert – ein wesentlicher Grund für Wirtschaftswachstum auf der einen und Ressourcenverbrauch auf der anderen Seite.
Die Digitalisierung als Modellfall für die Geo-Anthropologie
„Die Digitalisierung als Motor des globalen Wandels ist für uns ein Modellfall für die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem Erdsystem und technischen sowie gesellschaftlichen Faktoren“, erklärt Christoph Rosol, Forscher am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Solche systemischen Zusammenhänge wollen er und seine Kollegen mit einer Forschungsinitiative auf dem neuen Gebiet der Geo-Anthropologie untersuchen.
Zwar können Klima- und Erdsystemforscher die Folgen etwa des Kohlendioxid-Ausstoßes oder der Landnutzung schon recht gut quantifizieren, und sie wissen daher auch ziemlich genau, welche Eingriffe nötig wären, um die Erderwärmung einzudämmen. „Dass da letztlich zu wenig passiert, liegt unserer Meinung nach auch daran, dass diese Faktoren als Stellschrauben in linearen Prozessen betrachtet werden“, sagt Christoph Rosol. „Die Zusammenhänge sind aber auf gesellschaftlicher Ebene hochgradig komplex. Wir müssen zunächst die Tiefenstruktur und die historischen Pfadabhängigkeiten unserer modernen hochindustrialisierten Gesellschaften verstehen, ehe es uns gelingen wird, etwa unsere Energieversorgung und Mobilität an die Klimaschutzziele anzupassen.“ Unter dem Gesichtspunkt der Pfadabhängigkeit analysieren Sozialwissenschaftler Entwicklungen, die nicht vorhersagbar sind, weil sie von einem komplexen Zusammenspiel vieler Faktoren angetrieben werden. Durch selbstverstärkende Effekte erreichen solche Prozesse aber irgendwann ein Stadium, in dem sie gewissermaßen zum Selbstläufer werden und sich nur kaum noch korrigieren, geschweige denn umkehren lassen.
Handlungsempfehlungen für den Umbau der Energieversorgung
Als Beispiel nennt der Wissenschaftshistoriker den Aufstieg der Kohle, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten Energieträger wurde. Sukzessive entstand damals ein neues, bis dahin nicht denkbares System der Großindustrie. Diese Transformation vollzog sich jedoch nicht zwangsläufig, sondern in einem Geflecht verschiedener Veränderungen und Randbedingungen: die technische Entwicklung – vor allem der Durchbruch der Dampfmaschine hatte hier einen immensen Effekt – spielte dabei ebenso eine Rolle wie neue Verwendungszwecke für Kohle, wenn sie etwa für die Kohletransporte mit Dampfern und Zügen verfeuert wurde oder Dampfmaschinen antrieb, um Wasser aus Kohlegruben abzupumpen. Aber auch die Kolonialgeschichte und die kapitalistische Wirtschaftsform wirkten sich auf den Wandel des Energiesystems aus. „Das war ein sich selbstverstärkender, aber auch sehr vom historischen Zufall geprägter Prozess“, sagt Christoph Rosol.
Ähnlich verläuft auch der derzeitige Umbau der Energieversorgung, der zwar vor allem aus Gründen des Klimaschutzes notwendig ist, aber bei Weitem nicht konsequent genug vorangetrieben wird. So gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die CO2-Emissionen in der Stromerzeugung, im Verkehr und in der Landwirtschaft zu reduzieren. Da aber kurzfristige wirtschaftlichen Überlegungen den Ausschlag geben und die Infrastruktur sich nicht einfach auf andere Energieträger als die fossilen umstellen lässt – ein Beispiel für eine Pfadabhängigkeit –, werden die nötigen Maßnahmen aber nicht ergriffen. „Wenn wir aus historischer und kultureller Perspektive auf Transformationen in der Energiewirtschaft blicken, können wir vielleicht Handlungsempfehlungen geben, wie dieses Dilemma zu lösen ist“, so Christoph Rosol. „Auf diese Weise können wir einen blinden Fleck beseitigen, der im Blick der Naturwissenschaften auf das Erdsystem bleibt.“ Aber nicht nur das: „Wir können die Geisteswissenschaften mit unserem Ansatz auch aus ihrer teils selbstverschuldeten Unmündigkeit lösen und menschliches Handeln in seiner nun plötzlich ganz offensichtlichen Wechselwirkung mit dem Erdsystem studieren.“
PH