Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut für Hirnforschung
Flexible Informationsverarbeitung im Gehirn durch dendritische Mechanismen
Einleitung
Eine der faszinierendsten und wichtigsten Eigenschaften unseres Gehirns ist seine enorme Flexibilität. Diese erlaubt es uns zum Beispiel, unsere ganze Konzentration auf einen Text zu richten, aber dennoch jederzeit auch auf relevante Veränderungen in unserer Umwelt - wie das Klingeln des Telefons oder ein Feueralarm - zu reagieren. Diese Anpassungsfähigkeit an plötzliche Änderungen ist grundlegend wichtig für das Überleben in einer unberechenbaren Umwelt, und das Gehirn übertrifft in dieser Kategorie selbst neueste, lernfähige Computeralgorithmen (artificial intelligence) um ein Vielfaches. Die Forschung der vergangenen zehn Jahre hat gezeigt, dass die enorme funktionelle Flexibilität von neuronalen Schaltkreisen ganz maßgeblich durch verschiedene Typen von inhibitorischen Interneuronen ermöglicht wird: sie kontrollieren alle Funktionen der sog. Pyramidalzellen, welche letztendlich das Verhalten des Individuums steuern [1-3]. Allerdings war es bislang unklar, ob auch die Dendriten der Pyramidalzellen (Abb. 1) einer flexiblen Form von Inhibition unterliegen.
Die Kontrolle dendritischer Aktivität in der Hirnrinde ist flexibel und erfahrungsabhängig
Zwei Arbeiten in unserem Labor haben im Jahr 2018 einen neuartigen Typ von inhibitorischem Interneuron beschrieben, welcher die Informationsverarbeitung in den Dendriten mit erstaunlicher Flexibilität an das augenblickliche Verhalten des Tieres anpasst. Diese Zellen befinden sich in der wenig verstandenen, äußersten Schicht der Hirnrinde, und erhalten zahlreiche Eingänge von Hirngebieten, die sich mit flexibler Anpassung an die Umwelt befassen - wesentlich mehr als alle bislang beschriebenen Interneuronen [4]. So verändern diese Neurone ihre Aktivitätsmuster auf sehr plastische Weise: Wenn die sensorische Information für das Tier relevanter ist, wird sie von ihnen auch stärker kodiert, wohingegen weniger bedeutsame Stimuli kaum zu Antworten führen. Diese Interneurone kontrollieren ihrerseits die Funktion des kortikalen Netzwerks durch weitreichende Interaktionen mit einer Reihe von anderen Nervenzellen, und hemmen im Speziellen die Dendriten von Pyramidalzellen stark und langanhaltend (Abb. 2).
Durch Verwendung eines neuen genetischen Markers gelang es uns, diese Ergebnisse auch auf die menschliche Hirnrinde zu übertragen [5]. Ermöglicht wurde dies durch Gewebespenden von Patienten, welche sich aus therapeutischen Gründen Hirnoperationen unterziehen mussten. Versuche an diesem Gewebe zeigten, dass dieselben Zellen im menschlichen Kortex existieren. Darüber hinaus zeigen sie eine Reihe von physiologischen Übereinstimmungen mit den in der Maus gefundenen Interneuronen, und bekommen zumindest einige der Eingänge, welche diesen Interneuronen ihre bemerkenswerte Flexibilität verleihen.
Fazit
Diese Erkenntnisse weisen auf die Übertragbarkeit von grundlegenden Forschungsergebnissen aus Tiermodellen auf den Menschen hin. Sie haben eine Reihe von neuen Fragen zu Identität, Verschaltung und Verhaltensfunktionen dieser Interneurone aufgeworfen, welche ich aktuell mit meinem Team bearbeite. Neben diesen biologischen Fragen interessiert uns hierbei besonders, inwiefern sich diese Erkenntnisse auch für die Entwicklung von flexiblen, lernfähigen Algorithmen verwenden lassen.