Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut für Geoanthropologie
Die Ausbreitung des Christentums in den pazifischen Gesellschaften: Computergestützte Analysen zur Untersuchung der kulturellen Evolution
Moderne computerbasierte Methoden erlauben es, Theorien des kulturellen Wandels mithilfe historischer Daten auf ihre Gültigkeit hin zu testen und einen besseren Einblick in die kulturelle Evolution zu gewinnen. Unser Forschungsteam um Joseph Watts am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte hat eine Frage aufgegriffen, die Wissenschaftler und Laien seit Langem fasziniert: die Verbreitung des Christentums.
Das Team nutzte hierfür die relativ neue sogenannte räumliche Methode der kleinsten Quadrate unter Berücksichtigung räumlich-phylogenetischer Faktoren. Diese Methode ermöglicht es, Merkmale zwischen Gesellschaften beziehungsweise Kulturen zu vergleichen und dabei auf die Faktoren geografische Nähe und gemeinsame Abstammung zu kontrollieren. Das bedeutet, dass der Anteil, den diese Einflussgrößen an der Ähnlichkeit von Kulturen haben, berechnet werden kann. Damit wird es möglich, den Einfluss anderer Faktoren auf die Übertragung kultureller Merkmale – wie politische Organisation, Bevölkerungsgröße und soziale Ungleichheit – in verschiedenen Gesellschaften auf der ganzen Welt gezielt zu untersuchen.
Ein „natürliches Experiment“
In den letzten 2.000 Jahren hat sich das Christentum von einer kleinen Glaubensgemeinschaft zur größten Religionsfamilie der Welt entwickelt. Wodurch wurde es so erfolgreich? Waren Basisbewegungen dafür ausschlaggebend oder wurde es durch politische Eliten gefördert? Und was kann uns die Ausbreitung des Christentums darüber sagen, wie es zur Verbreitung neuer kultureller Merkmale im Allgemeinen kommt?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, nutzten wir hochwertige Datenbanken mit umfassenden Informationen über austronesische Gesellschaften. Diese Gesellschaften erstrecken sich von Ostafrika über Südostasien bis in den Südpazifik und teilen eine gemeinsame Ursprache. Der Konversionsprozess der austronesischen Gemeinschaften ist gut dokumentiert. Die Christianisierung erfolgte hauptsächlich im 18. und 19. Jahrhundert und die Struktur dieser Gesellschaften reichte damals von sehr kleinen, egalitären Familiengemeinschaften bis hin zu großen, politisch komplexen Gesellschaften wie Hawaii. Einige dieser Gesellschaften konvertierten in weniger als einem Jahr vollständig, bei anderen dauerte es bis zu 200 Jahre.
Die Christianisierung der austronesischen Kulturen stellt damit eine Art natürliches Experiment dar, mit dem sich untersuchen lässt, wie unterschiedliche Sozial- und Bevölkerungsstrukturen die Ausbreitung des Christentums beeinflusst haben. Besonderes Augenmerk galt dabei Aspekten wie politische Hierarchisierung, soziale Ungleichheit und Bevölkerungsgröße in 70 austronesischen Gesellschaften.
Ideen verbreiten sich am schnellsten in kleinen Populationen
Wir fanden heraus, dass Bevölkerungsgröße und politische Hierarchisierung die Geschwindigkeit der Konversion am stärksten beeinflusst haben.
Kulturen mit politischen Führungsstrukturen konvertierten am schnellsten zum Christentum. Dies spricht für die Annahme eines „Top-down-Prozesses“, bei dem politische Machthaber und die Führer von Eliten, die selbst von Missionaren bekehrt wurden, die Verbreitung der christlichen Lehre in ihrem Volk maßgeblich beeinflusst haben. Interessanterweise spielte es dabei keine Rolle, wie vielschichtig die politische Struktur war – ob es nur eine oder mehrere Führungsebenen gab.
Im Gegensatz zur Hierarchisierung hatte das Ausmaß der sozialen Ungleichheit keinen Einfluss auf das Tempo der Christianisierung. Dies stellt eine der populärsten Begründungen für den Erfolg des Christentums infrage, die einen „Bottom-up-Prozess“ annimmt. Dieser Prozess, so die Theorie, werde dadurch angetrieben, dass das Christentum die Angehörigen der unteren sozialen Schichten stärkt und ihnen ein besseres Leben nach dem Tod verspricht.
Die größte Vorhersagekraft für das Tempo der Konversion hatte jedoch die Bevölkerungszahl. Das Christentum verbreitete sich am schnellsten in kleinen Gesellschaften. Die Erklärung hierfür wird als frequenzabhängige Übertragung bezeichnet. Je mehr Menschen eine Person kennt, die bereits den neuen Glauben angenommen haben, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie selbst ebenfalls konvertieren wird. Innerhalb einer kleinen Gesellschaft hat jede Person Verbindungen zu einem höheren Anteil der Gesamtbevölkerung als in einer großen Gesellschaft. Wenn also in einer kleinen Gemeinschaft eine gewisse Anzahl von Menschen konvertiert, werden diese einen größeren Teil ihrer Gemeinschaft beeinflussen als in einer größeren Gemeinschaft. Der kritische Schwellenwert oder Kipppunkt für die Gesamt- oder Mehrheitsübernahme wird deshalb in kleinen Populationen schneller erreicht.
Verbindungen zwischen Menschen fördern die Verbreitung neuer kultureller Merkmale
Die Ergebnisse der Studie unterstreichen die Bedeutung sozialer Netzwerke für die Verbreitung neuer kultureller Ideen.
Große Gesellschaften gelten häufig als Quellen für Innovationen, aber obwohl dies stimmen mag, zeigt die Untersuchung, dass größere Gesellschaften neue Ideen auch langsamer aufgreifen können. In einer kleinen Gesellschaft ist es wahrscheinlicher, dass neue Überzeugungen sich relativ schnell verbreiten, besonders wenn sie von deren politischen Machthabern und anderen Eliten gefördert werden. Solche Personen haben nicht nur großen Einfluss auf die Gemeinschaft, sondern eine politische Hierarchie schafft auch zusätzliche Verbindungen zwischen Menschen und zwischen Teilen einer Gesellschaft, die sonst nicht miteinander verbunden wären.
Die Bedeutung unserer Forschung besteht nicht nur in den neuen Erkenntnissen darüber, wie sich kulturelle Merkmale in der Vergangenheit verbreitet haben. Sie kann darüber hinaus helfen zu verstehen, welche Faktoren die Verbreitung und Übernahme von Institutionen, Ideologien und Technologien heute beeinflussen, und wie sich solche Neuerungen in Zukunft ausbreiten könnten.
Literaturhinweise
Nature Human Behaviour 2, 559–564 (2018)
Plos one, September 23 (2015)
Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 114 (30), 7846–7852 (2017)
Behavioral and Brain Sciences 39, e27 (2016)
Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 282: 20142556 (2015)