Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung
Flüssigkeitsähnliches Verhalten von Gewebe - ein Schlüsselprinzip für die Entstehung von Form
Die Entstehung von komplexen Formen durch das Wachstum von Gewebe ist ein faszinierendes natürliches Phänomen, das bislang nur unzureichend verstanden ist. Schon vor mehr als hundert Jahren ist D’Arcy Thompson dieser Frage nachgegangen und hat sie ins Zentrum einer sehr umfangreichen Sammlung von Beispielen aus der Natur gestellt. Insbesondere hat er dabei die Rolle von Minimalflächen, welche in Flüssigkeitstropfen durch die Minimierung der Oberflächenenergie ganz spontan entstehen, herausgehoben [1]. Dieses Prinzip wird vor allem in der Entwicklungsbiologie diskutiert, weil sich Zellagglomerate flüssigkeitsähnlich verhalten und Oberflächenspannungen zur Organentwicklung beitragen können [2]. Weniger bekannt ist, dass auch Bindegewebe und sogar Knochen sich auf langen Zeitskalen fast wie Flüssigkeiten verhalten. Und das, obwohl sie nicht nur aus Zellen bestehen, sondern auch eine große Menge an extrazellulärer Matrix beinhalten, die im Knochen sogar durch Mineralien (Kalziumphosphat) verstärkt ist.
Eine besondere Stärke und zugleich faszinierende Eigenschaft lebender Systeme ist ihre Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen. Diese Fähigkeit besitzt auch der Knochen, der laufend durch An- und Abbau kleiner Knochenpakete erneuert wird. Dieser Umbauprozess wird nach mechanischen Prinzipien über einen Regelkreis kontrolliert. Dadurch besitzen der Knochen und andere Gewebe die Fähigkeit, sich ändernden mechanischen Anforderungen anzupassen. Dieser ständige Umbau ergibt auf sehr langen Zeitskalen eine Art Fließverhalten wie bei Flüssigkeiten, während das Material selber zu jeder Zeit fest ist.
Formen mit minimaler Oberfläche
In einer Kooperation zwischen dem MPI für Kolloid- und Grenzflächenforschung und Partnern an der ETH Zürich und der Montanuniversität Leoben haben wir den Wachstumsprozess sowohl in einem in-vitro-Modell von knochenbildenden Zellen [3-4] als auch durch theoretische Modellierung [3, 5] untersucht. Dabei zeigte sich, dass Gewebe, welches auf gekrümmten Oberflächen wuchs, Formen mit Außengrenzen konstanter mittlerer Krümmung entwickelte. Diese ähneln sehr stark Formen von Flüssigkeitstropfen, die eine minimale Oberfläche annehmen. Als Substrate für das Zell- und Gewebewachstum dienten uns gekrümmte Oberflächen aus Kunststoff. Dabei verwendeten wir ein flüssiges Polymer, das sich bei hohen Temperaturen verfestigt. Auf den Substraten, die mit unterschiedlichen Geometrien hergestellt wurden, konnten die Zellen wachsen und neues Gewebe bilden. Die Menge des gebildeten Gewebes hing dabei erheblich von der Form des Substrats ab. Dabei fiel auf, dass sich auf stark konkaven Oberflächen mehr Gewebe bildete. Das deutet auf einen mechanisch induzierten biologischen Rückkopplungsmechanismus hin [3]. Durch Hemmung der Zellkontraktilität konnten wir nachweisen, dass aktive Zellkräfte notwendig sind, um ausreichende Oberflächenspannungen für das flüssigkeitsähnliche Verhalten und das Wachstum des Gewebes zu erzeugen. Dies legt nahe, dass die mechanische Signalübertragung zwischen Zellen und ihrer physischen Umgebung zusammen mit der kontinuierlichen Reorganisation von Zellen und Matrix ein Schlüsselprinzip für die Entstehung der Gewebeform ist.
Chirale Gewebestrukturen
Mittels der Lichtblattmikroskopie konnten wir ferner Einblicke in die räumliche Gewebestruktur gewinnen. Dabei machten wir eine weitere bemerkenswerte Entdeckung: Die Zellen ordneten sich zu ausgedehnten chiralen Strukturen an, die sich spiralförmig um die Kapillarbrücken schlängelten. Ähnliche Strukturen findet man auch in Osteonen, den kleinsten Funktionseinheiten des Knochens. Ein Osteon entsteht, indem sich knochenbildende Zellen (Osteoblasten) konzentrisch in vier bis 20 Schichten um ein Blutgefäß lagern, einmauern und zu Lamellenknochen werden.
In einer weiteren Studie konnten wir zudem nachweisen, dass Bindegewebszellen, sogenannte Fibroblasten, in der Nähe der Oberfläche eines wachsenden Gewebes in einen anderen Zustand kommen, in dem sie gewisse Eigenschaften von Muskelzellen übernehmen [4]. Diese Myofibroblasten kontrahieren und erzeugen Spannungszustände in einer Oberflächenschicht. So nehmen diese wachsenden Gewebeteile – ganz wie ein Wassertropfen – Formen an, bei denen die gesamte Oberfläche minimal ist. Das einfachste Beispiel dafür ist eine Kugel, aber die Formen können wesentlich komplexer werden, wenn das Gewebe (oder der Wassertropfen) teilweise an einem Substrat klebt. So haftet in der Abbildung das Gewebe an zwei runden Scheiben an; die Minimalform, die dabei entsteht, wird durch ein Nodoid begrenzt.
Oberflächenenergie als Formgeber
Diesen Wachstumsprozess konnten wir auch in einem einfachen mathematischen Modell nachvollziehen. Dabei muss eine Art biologischer Wachstumsdruck des Gewebes die durch die Volumenänderung entstehenden physikalischen Kräfte überwinden. Die Oberflächenenergie ist Teil dieser zu überwindenden Kräfte und trägt somit wesentlich zur Formentstehung bei. Wenn das Gewebe an einer ausreichend komplexen Umgebung anhaftet, entstehen auch Formen großer Komplexität [5], die verblüffende Ähnlichkeiten mit natürlichen Geweben aufweisen [5].
Die Ergebnisse dieser Arbeiten legen nahe, dass flüssigkeitsähnliches Gewebeverhalten ein Schlüsselprinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen ist. Dadurch werden nicht nur die 100 Jahre alten Ideen von D’Arcy Thompson experimentell und theoretisch untermauert. Dies kann auch weitreichende Konsequenzen haben im Hinblick auf das Verständnis von Heilungsprozessen sowie der Organentwicklung, und es kann auch für medizinische Anwendungen wie der Entwicklung von Implantaten relevant sein.
Literaturhinweise