Zwischenbericht des Opferforschungsprojekts wurde dem Bayerischen Landtag übergeben
Im Edinger Institut des Frankfurter Universitätsklinikums noch lagernde Präparate und Schriftgut aus dem Nachlass Hallervorden werden dem Projekt zur Verfügung gestellt
Das von der Max-Planck-Gesellschaft geförderte unabhängige Opferforschungsprojekt, das im Juni 2017 begonnen wurde und über eine Laufzeit von drei Jahren von der Max-Planck-Gesellschaft mit 1,5 Millionen Euro gefördert wird, hat dem Bayerischen Landtag einen Zwischenbericht vorgelegt. An dem Projekt beteiligt sind Gerrit Hohendorf (Technische Universität München), Herwig Czech (Medizinische Universität Wien), Paul Weindling (Oxford Brookes University) und Patricia Heberer-Rice (US Holocaust Memorial Museum). Der Entscheidung für ein solches Opferforschungsprojekt vorausgegangen waren Funde von Hirnschnitten im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin sowie im Historischen Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München (https://www.mpg.de/11260458/).
Ziel des Forschungsprojekts ist es, diejenigen Menschen, die als NS-Opfer anzusehen sind und an deren Gehirnen Wissenschaftler während und nach dem Zweiten Weltkrieg geforscht haben, namentlich zu identifizieren. Diese Informationen sollen später in eine Datenbank bei der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle übertragen und auf diesem Weg der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus sollen diejenigen Forschungsnetzwerke rekonstruiert werden, die zu der Gehirnübersendung an Institute der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft) geführt haben und der Umgang mit den Präparaten bis in die jüngste Vergangenheit aufgeklärt werden.
Bestände aus dem Edinger Institut werden zugänglich gemacht
Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt, war von 1962 bis 1978 in Personalunion (Wilhelm Krücke wurde 1955 zum Direktor des Edinger Institutes berufen und war bis zu seiner Emeritierung 1978 auch Leiter der Neuropathologischen Abteilung des MPI für Hirnforschung) mit dem Neurologischen Institut (Edinger Institut) des Universitätsklinikums Frankfurt verbunden, was zu einer teilweisen Verschmelzung von Sammlungsbeständen und Unterlagen geführt hat. Bis 2007 lagerten die Präparate im Gebäude des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, nach 2007 in den Räumlichkeiten des Edinger Instituts auf dem Gelände des Universitätsklinikums. Sie blieben aber formaljuristisch Eigentum der Max-Planck-Gesellschaft. Es handelt sich dabei um Präparate zu Fällen, die aus dem Nachlass des ehemaligen Leiters der histopathologischen Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Berlin (später Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt), Julius Hallervorden, stammen.
Die Goethe-Universität Frankfurt, das Universitätsklinikum Frankfurt und die Max-Planck-Gesellschaft haben sich darauf verständigt, dass Humanpräparate und Schriftquellen aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, die im Edinger Institut lagern, jetzt ebenfalls im Kontext des Max-Planck-Projekts durch die Forschergruppe untersucht werden. Aufgrund von Hinweisen aus dem Edinger Institut war es Paul Weindling möglich, zwei noch vorhandene Gehirnpräparate aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut in der Sammlung des Edinger Instituts Personen zuzuordnen, die als polnische Staatsbürger jüdischen Glaubens unter der deutschen Besatzung in Warschau ums Leben gekommen waren und damit als Opfer der Shoah gelten müssen. Anhand eines 696 Einträge umfassenden durch Wissenschaftler des Edinger Institut erstellten Verzeichnisses der Schausammlung, konnten durch einen Abgleich mit den im Teilprojekt von Herwig Czech erhobenen Daten (s.u.) weitere Verdachtsfälle identifiziert werden. Darunter zumindest eine Person, die als Opfer der „Aktion T4“ in der Vernichtungsanstalt Bernburg ermordet wurde.
Universität und Universitätsklinikum Frankfurt machen der Forschergruppe derzeit weitere Unterlagen zugänglich – darunter auch Karteikarten zur Sammlung Hallervorden sowie die Präparate der Schausammlung. Die Max-Planck-Gesellschaft stellt für die Erfüllung dieser Aufgabe zusätzliche Finanzmittel und Räumlichkeiten im benachbarten Ernst Strüngmann Institut (ESI) bereit. Die ersten Bestände wurden Mitte Dezember 2019 zur Bearbeitung in das ESI verbracht; darunter befanden sich auch mikroskopische Präparate, die als mögliche sterbliche Überreste von Jüdinnen oder Juden besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, denn sie unterliegen – ebenso wie die oben erwähnten Hirnpräparate aus Warschau – speziellen religiösen Vorschriften.
Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse des Opferforschungsprojekts
Projektteil mit Schwerpunkt Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München); Projektleiter: Prof. Dr. Gerrit Hohendorf
Der jetzt vorliegende Zwischenbericht stellt fest, dass im Untersuchungszeitraum Januar 1939 bis Dezember 1945 Gehirne bzw. Präparate von 1.634 Personen in der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie eingegangen und untersucht worden sind. Im Berichtsjahr 2019 wurden beträchtliche Anstrengungen unternommen, die Quellenlage für die Einrichtungen zu sondieren, von denen die neuropathologischen Einsendungen an die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie stammten. Die Recherchen ergaben, dass zu den 1.634 Personen, deren Gehirne bzw. Präparate in den Jahren 1939 bis 1945 in der Deutschen Forschungsanstalt eintrafen, noch knapp über 1.000 Patientenakten existieren. Allein 506 der untersuchten Gehirne wurden aus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar übersandt. Hier konnte die Durchsicht der relevanten Krankenakten erwachsener Patienten bereits abgeschlossen werden. Zur Feststellung, ob es sich bei den verstorbenen Patienten um „Euthanasie“-Opfer handelt, wurde ein systematisches Auswertungsschema für psychiatrische Krankengeschichten entwickelt. Dadurch kann anhand vorgegebener Kriterien (Sektionsbefund, dokumentierter Krankheitsverlauf, Gewichtsentwicklung, negative Bewertung der Patienten im Hinblick auf Arbeitsleistung, Verhalten und Pflegeaufwand) die Einstufung der Todesart transparent dokumentiert werden. Bei einigen Patientenakten ist eine umfangreiche Angehörigenkorrespondenz überliefert, die eine anzustrebende Kontaktaufnahme mit heute noch lebenden Verwandten jener „Euthanasie“-Opfer, an deren Gehirnen in der Deutschen Forschungsanstalt bzw. dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie geforscht wurde, ermöglichen sollte. Das gilt insbesondere für jene Opfer, von denen sich nach der Bestattung auf Münchner Waldfriedhof im Jahr 1990 auch heute noch Hirnpräparate im Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München befinden.
Projektteil mit Schwerpunkt Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, Berlin (später: Max-Planck-Institut für Hirnforschung Frankfurt am Main) und Genealogisch-Demographische Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie; Projektleiter: Dr. Herwig Czech
Von zentraler Bedeutung für die Identifizierung der Opfer unethischer neuropathologischer Forschung sind die Unterlagen in den Nachlässen von Julius Hallervorden und Hugo Spatz, die beide leitend am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch, am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Gießen und später als Emeriti am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main tätig waren. Die wissenschaftliche "Verwertung" von NS-Opfern schlug sich in Veröffentlichungen, Qualifikationsarbeiten und Vorträgen von Mitarbeitenden, Stipendiaten, Dissertanten etc. des KWI bzw. MPI für Hirnforschung nieder. Um die Geschichte dieser Verwertung auf jedes einzelne Opfer bezogen rekonstruieren zu können, wurden anhand von Jahresberichten und diversen Verzeichnissen alle zwischen 1939 und 1990 im Rahmen des Instituts für Hirnforschung in Berlin und seiner Nachfolgeinstitute veröffentlichten Arbeiten erfasst, insgesamt 4.920 Titel. 1.850 davon bedürfen einer näheren Untersuchung, d.h. eine Durchsicht der Publikationen auf konkrete Hinweise auf die Verwendung von problematischen Präparaten. Diese ist zu ca. 75 Prozent abgeschlossen. Für den letzten Schritt, den Abgleich zwischen den erhobenen verdächtigen Publikationen mit den erwiesenen „Euthanasie“-Fällen, ist der vorherige Abschluss der personenbezogenen Recherchen nötig. 2.179 Verdachtsfälle müssen im Hinblick auf einen möglichen Zusammenhang mit der „NS-Euthanasie“ untersucht werden. Von diesen Fällen konnten bisher 511 abschließend bearbeitet werden; weitere 601 befinden sich in Bearbeitung (d.h. es sind noch ergänzende Eingaben nötig); die restlichen 1067 Fälle sind noch offen. Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass menschliche Überreste von insgesamt zwischen 1100 und 1300 Opfern der “NS-Euthanasie” im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung bzw. dessen Nachfolgeinstituten verwendet wurden.
Projektteil mit Schwerpunkt Andere Gruppen von Opfern unethischer neuropathologischer Forschung im Nationalsozialismus und zentrales Datenbankmanagement; Projektleiter: Prof. Dr. Paul Weindling
Der Bericht gibt einen Überblick über die Gehirnpräparate aus den besetzten polnischen Gebieten, sowie über Gehirne von Kriegsgefangenen und von hingerichteten Opfern der sogenannten NS-“Volksjustiz”. So wurden weitere Opfer der unethischen Forschung in der histopathologischen Abteilung von Julius Hallervorden am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch und in der neuropathologischen Abteilung von Willibald Scholz in der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München identifiziert. Diese Opfer lassen sich in drei Gruppen einteilen: hauptsächlich jüdische und einige nichtjüdische Zivilpersonen aus den von Deutschland besetzten Gebieten, vor allem Polen, alliierte Kriegsgefangene sowie schließlich Personen, die in Deutschland für Straftaten zwischen 1933 und 1945 unter der herrschenden nationalsozialistischen "Volksjustiz" hingerichtet wurden. Bei Hallervordens Serie M hatte man bisher angenommen, dass es sich um eine Sammlung von mindestens 1500 Gehirnen handelt, die alle von gefallenen oder verstorbenen Soldaten stammten. Die gegenwärtigen Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass mindestens 210 Gehirne von nichtdeutschen Zivilpersonen stammen. Von diesen wurden 166 Personen (hauptsächlich polnische Juden) auf der Grundlage von Autopsieberichten identifiziert.
Die Mehrzahl der identifizierten Hirnproben stammte von jüdischen Opfern, die 1940 in Warschau an Fleckfieber starben. Seit Beginn des Projekts gelang es 148 von 189 Patienten zu identifizieren, deren Gehirne von Warschau an Hallervorden geschickt worden sind. Dies wurde möglich, weil im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg im Breisgau 111 Autopsie-Protokolle von Fällen der "Serie M" entdeckt wurden. Darüber hinaus fand Prof. Weindling im Staatsarchiv in München Gerichtsprotokolle von 23 Personen, die wegen mehr oder weniger schwerer Verbrechen zum Tode verurteilt und in der Haftanstalt Stadelheim enthauptet wurden. Die Gehirne der Hingerichteten wurden von der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München für Forschungszwecke verwendet.