Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Heisenberg und die Suche nach einer endgültigen Theorie

Autoren
Blum, Alexander S
Abteilungen
Max-Planck-Forschungsgruppe „Historical Epistemology of the Final Theory Program“
Zusammenfassung
Die Suche nach einer endgültigen, grundlegenden Theorie (final theory) war ein Leitmotiv der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts. Die von Alexander Blum geleitete Max-Planck-Forschungsgruppe „Historical Epistemology of the Final Theory Program (Historische Epistemologie des Projekts einer endgültigen Theorie)“ untersucht und bewertet diese jahrhundertlange Suche mit den Methoden der historischen Epistemologie. Hier zeigt sie die (gescheiterten) Versuche des späten Werner Heisenberg, eine solche endgültige Theorie aufzustellen.

Am 25. April 1958 präsentierte Werner Heisenberg in der Westberliner Kongresshalle seine „nichtlineare Spinortheorie“, die bereits als seine „Weltformel“ bezeichnet wurde. Diese Theorie sollte, ausgehend von nur einem Grundbestandteil der Materie und nur einer zentralen Gleichung, die mannigfaltigen beobachteten mikroskopischen Teilchen und Wechselwirkungen sowie alles erklären, was aus ihnen konstruiert werden kann – das heißt die gesamte makroskopische physikalische Welt. Sie sollte eine „endgültige Theorie“ sein. Die Rede war der Höhepunkt einer Reihe von Vorträgen, die vor allem in Deutschland, aber auch international große Resonanz in der Presse fanden.

Heisenbergs Physikerkollegen reagierten weniger enthusiastisch. Man hielt seine Theorie nicht für geeignet, gesicherte mikroskopische Phänomene zu reproduzieren. Trotz größter Anstrengung gelang es Heisenberg nicht, die Zweifler vom Gegenteil zu überzeugen. Er widerrief seine Aussagen nie und ruderte auch nicht zurück, sondern verfolgte seine Theorie mit einer Handvoll Mitarbeiter weiter. Doch präsentierte er sie danach nicht mehr vor einem solch großen Publikum.

Die Geschichte des Heisenberg’schen Fiaskos ist in ihren Grundzügen schon oft erzählt worden. Manche spotten über den Sturz des großen Entdeckers der Quantenmechanik, der zuerst am Bau einer Atombombe für die Nationalsozialisten scheiterte und dann ebenso an seinem Versuch eines großartigen faustischen Comebacks. Andere versuchen ihn zu verteidigen und machen geltend, dass Heisenberg die Reaktion der Medien nicht vorhergesehen habe. Wieder andere bedauern sein Scheitern, das der Physiker Freeman Dyson mit dem „Tod eines erhabenen Tieres“ verglich.

All diesen Lesarten ist gemeinsam, dass sie die Gründe für Heisenbergs Scheitern in persönlichen Unzulänglichkeiten suchen – seiner Hybris, seiner Naivität oder seinem Alter. Eine der wichtigsten Aufgaben der Wissenschaftsgeschichte ist es, über solche biografischen Lesarten hinauszugehen und zu fragen: Wie war das möglich? Wie konnte einer der wichtigsten Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts sich selbst in dem Glauben an eine Theorie täuschen, die nach allem, was man (von fachkundiger Seite) hörte, falsche Ergebnisse lieferte.

Dies wäre auch dann eine interessante Frage, wenn Heisenberg der Einzige wäre, der sich an einer endgültigen Theorie versucht hätte. Doch die Suche nach einer solchen Theorie wurde in der modernen Physik zu einem wiederkehrenden Motiv, von Albert Einsteins Suche nach einer einheitlichen Feldtheorie bis hin zur heutigen Stringtheorie.

Seit 2018 arbeitet die Forschungsgruppe „Historical Epistemology of the Final Theory Program“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte zu diesem Thema und beleuchtet die Geschichte dieser Suche, von Heisenbergs Scheitern bis zur zeitgenössischen Forschung. In den letzten Jahrzehnten ist die Suche nach einer endgültigen Theorie gleichbedeutend mit dem Versuch geworden, eine Theorie zu konstruieren, die die beiden revolutionären Theorien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie, in einem einheitlichen Rahmen vereinigt. Diese sogenannte Theorie der Quantengravitation ist ein aktives Forschungsfeld am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik und die neue Forschungsgruppe arbeitet daher in engem Kontakt mit den Physikerinnen und Physikern dieses Instituts.

Verglichen mit der modernen Stringtheorie, die über mehrere Jahrzehnte von vielen Physikern weltweit verfolgt wurde, erscheinen Heisenbergs frühe Versuche ziemlich lächerlich. Doch Heisenbergs Weltformel ist insofern eine wertvolle Fallstudie, als sie einige der zentralen Herausforderungen deutlich macht, denen sich das Projekt einer endgültigen Theorie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gegenübersah.

Wenn man sich zum Beispiel fragt, wie Heisenberg an eine Theorie glauben konnte, die nicht in der Lage war, allgemein bekannte Erscheinungen zu reproduzieren, muss man sehen, dass es durchaus nicht trivial ist, aus modernen mikroskopischen physikalischen Theorien Ergebnisse zu extrahieren. Man muss dafür mehr oder weniger zuverlässige Näherungsmethoden verwenden. Sobald man sich außerhalb des Gültigkeitsbereichs dieser Näherungsmethoden bewegt, beginnt das Reich der Vermutungen, und Physiker können tatsächlich verschiedener Ansicht darüber sein, was eine bestimmte Theorie über die Welt aussagt – wie es auch bei Heisenbergs Weltformel der Fall war.

Doch wie konnte Heisenberg überhaupt eine Theorie konstruieren, wenn der Zusammenhang mit empirischen Daten so dürftig war, dass diese kaum Hinweise auf die Struktur der Theorie zu liefern vermochten? Weil die Theoriebildung zu dieser Zeit so stark durch den zugrunde liegenden mathematischen Formalismus von Quanten- und Relativitätstheorie beschränkt war, dass nur zwei oder drei weitere Annahmen nötig waren, um einen eindeutigen Satz grundlegender Gleichungen zu erhalten. In Heisenbergs Fall war die zentrale zusätzliche Annahme, dass es nur einen einzigen grundlegenden Bestandteil von Materie gibt, aus dem sich alle bekannten Teilchen konstruieren lassen, eine Idee, die Heisenberg explizit aus der antiken griechischen Philosophie entlehnte, von den Vorsokratikern und den Atomisten.

Die Betrachtung dieses Komplexes von Theorien, die ohne empirische Daten konstruiert werden können, dann aber umgekehrt Schwierigkeiten haben, empirische Ergebnisse zu liefern, eröffnet eine neue, geschichtswissenschaftliche Sichtweise auf das, was Wissenschaftsphilosophen als Postempirizismus bezeichnet haben. Die Untersuchung des Falls Heisenberg beleuchtet schlaglichtartig die Voraussetzungen und die Ursachen der Abkehr von Empirie und Experiment; Voraussetzungen und Ursachen, die auch heute noch wirken, aber in großen internationalen Forschungsnetzwerken kaum reflektiert werden können. So liefert diese Arbeit nicht nur ein historisches Verständnis dafür, wie sich Heisenberg dermaßen irren konnte, sondern auch neue Denkansätze für die Herausforderungen, vor denen Physiker heute auf der Suche nach der endgültigen Theorie stehen.

Literaturhinweise

Blum, A. S.

Heisenberg’s 1958 Weltformel and the Roots of Postempirical Physics  
Springer Nature Switzerland, Cham (2019)
Zur Redakteursansicht