Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern
Zivilcourage in mehrdeutigen Situationen
Was ist Zivilcourage?
Wie reagieren wir, wenn wir Zeuginnen beziehungsweise Zeugen von Ungerechtigkeit, Diskriminierung oder Verletzung von Menschenrechten werden? In manchen Fällen greifen Menschen ein, um derartige Normverletzungen zu stoppen, zu ahnden oder zumindest anzuprangern, obwohl sie davon nicht direkt selbst betroffen sind und obwohl ihr Eingreifen für sie teilweise risikoreich ist. Ein solches Eingreifen Dritter gegen Verletzungen grundlegender Normen und Werte verstehen wir als Zivilcourage. Diese Definition schließt ein breites Spektrum mutigen Verhaltens ein, angefangen bei Widerrede gegen Diskriminierung und Hass über Eingreifen bei eskalierenden Auseinandersetzungen bis hin zu Whistleblowing gegen Unrecht am Arbeitsplatz.
Mangelt es an Zivilcourage? Verschiedene Methoden geben erstaunlich unterschiedliche Antworten
Zivilcourage wird als wichtiger Faktor in demokratischen Gesellschaften angesehen [1; 2]. Oft kann sie Leid und Schaden abwenden. Darüber hinaus spielt sie eine wichtige Rolle zur Aufrechterhaltung eben jener Normen und Werte in der Gesellschaft [3]. Vor diesem Hintergrund wird häufig ein Mangel an Zivilcourage in der Bevölkerung beklagt. Empirische Untersuchungen hierzu weisen jedoch erstaunlich unterschiedliche Ergebnisse auf.
Legt man Personen Beschreibungen von Situationen vor und bittet sie, sich vorzustellen, wie sie sich verhalten würden, so geben viele an, zumindest mit kleinen Schritten gegen Normverletzungen vorgehen zu wollen. So meinten zum Beispiel über 80 Prozent der Befragten, sie würden etwas dagegen unternehmen, sollten sie Zeuge oder Zeugin der Unterschlagung von Forschungsgeldern werden. In einer vergleichbaren Stichprobe mit Personen, die tatsächlich in die beschriebene Situation gebracht wurden, taten dies jedoch nur etwa 25 Prozent [4]. Diese Diskrepanz könnte sich durch Effekte sozialer Erwünschtheit erklären lassen: Werden Menschen hypothetisch befragt, antworten sie möglicherweise so, wie es allgemein als erwünscht gilt, geben also nicht wahrheitsgemäß an, ob sie denken, dass sie tatsächlich eingreifen würden. Während das „echte“ Verhalten mit Risiken oder Unannehmlichkeiten verbunden ist, sind die hypothetischen Antworten ohne Konsequenzen, sie bleiben also völlig „kostenfrei“.
Aufschlussreich sind deshalb Situationen, in denen das Eingreifen gegen Ungerechtigkeit mit Kosten einhergeht. Mit Hilfe eines sogenannten ökonomischen Spiels, dem „Drei-Personen-Spiel“, wird eine solche Situation hergestellt. Hier interagieren drei Personen in verschiedenen Rollen unter vollständiger Anonymität: Person A bekommt einen Geldbetrag und kann diesen behalten oder Person B davon etwas abgeben. Person B kann nichts tun und geht leer aus, wenn Person A nichts abgibt. Person C erhält unabhängig von A und B Geld und wird über die Entscheidung von A informiert. Person C kann dann in die Aufteilung eingreifen, indem sie A Geld abzieht. Diese Entscheidung ist allerdings für C mit Kosten verbunden, die von ihrem eigenen Geld abgezogen werden. Trotz der Kosten des Eingreifens ergeben Studien mit dem Drei-Personen-Spiel, dass über 60 Prozent der Teilnehmenden in der Rolle von Person C dies tun, wenn Person A eine unfaire Aufteilung vornimmt (das heißt, wenn Person A nichts oder nur wenig Geld an Person B abgibt). Dieser Anteil ist allerdings wesentlich höher als derjenige in Studien mit Verhaltensbeobachtungen in komplexeren Alltagssituationen.
Psychologische Barriere des Eingreifens in Alltagssituationen: Mehrdeutigkeit der Normverletzung
Wie kommt es zu so unterschiedlichen Verhaltensmustern, wenn wir die mit verschiedenen Methoden gewonnenen Ergebnisse vergleichen? Soziale Erwünschtheit allein scheint hier als Erklärung nicht auszureichen. Dieser Frage auf den Grund zu gehen, kann uns Anhaltspunkte geben, welche psychologischen Barrieren in komplexeren Alltagssituationen auftauchen und zivilcouragiertes Eingreifen angesichts einer Normverletzung verhindern.
In einem aktuellen Projekt haben Daniel Toribio-Flórez, Julia Sasse und ich die Uneindeutigkeit von Normverletzungen als eine solche Barriere untersucht [Manuscript under review: „Third-party punishment under situational ambiguity: The moderating role of justice sensitivity“]. Hypothetischen Beschreibungen und dem Drei-Personen-Spiel ist gemein, dass eine Normverletzung (zum Beispiel Unterschlagung von Forschungsgeldern oder unfaire Aufteilung) eindeutig identifizierbar ist. In komplexeren Verhaltenssituationen ist dies wahrscheinlich häufig nicht der Fall. Selbst wenn theoretisch alle relevanten Informationen über eine Normverletzung verfügbar wären, kann sich ein Dritter leicht fragen, ob er oder sie alles richtig gehört hat oder ob Hintergrundinformation fehlt, die die Situation aufklären könnte.
Um den Effekt von Uneindeutigkeit aufzuzeigen, haben wir in einer Reihe von Studien das Drei-Personen-Spiel so abgewandelt, dass Person C zwar über die Aufteilungsentscheidung von A informiert wird, jedoch nicht weiß, über wie viel Geld A verfügte. So bleibt unklar, ob die Aufteilung unfair ist oder nicht. Durch diese Variation fanden wir systematisch weniger Personen (je nach Studie zwischen 10 und 30 Prozent weniger), die gegen eine gleichbleibende Aufteilung von Person A eingriffen.
Um zu verstehen, warum weniger Menschen bei uneindeutigen Normverletzungen eingreifen, gaben wir unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmern in der Rolle von C die Möglichkeit, ihr Geld einzusetzen, um die fehlende Information über das ursprüngliche Guthaben von Person A zu erhalten. Ein Drittel der Personen wählte diese (kostspielige) Möglichkeit, um die Uneindeutigkeit aufzulösen. Wenn diese dann die Information erhielten, dass die Aufteilung von Person A tatsächlich sehr ungleich war, griffen alle ein und zogen Person A Geld ab. Offensichtlich ging es diesen Personen also nicht darum, eigene Kosten zu umgehen. Stattdessen gaben sie in nachfolgenden Fragen an, dass sie vor allem vermeiden wollten, selbst unfair zu handeln.
Fördert couragiertes Eingreifen: Informationen in der Situation einholen
Diese Ergebnisse legen nahe, dass es im Alltag ein Hindernis für zivilcouragiertes Eingreifen sein kann, wenn komplexe Situationen sich als mehrdeutig darstellen und Außenstehende befürchten können, dass sie die Situation falsch einschätzen. Die Befunde deuten aber auch in eine Richtung, wie diese Barriere überwunden werden könnte: Ein substanzieller Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war bereit, eigene Kosten auf sich zu nehmen, um die Situation aufzuklären. Eine Handlungsempfehlung für Alltagssituationen könnte entsprechend sein, Beteiligte oder andere Umstehende zu befragen, wenn eine Situation sich als mehrdeutig darstellt. Indem sie zusätzliche Information sammeln, können Menschen unter Umständen die Befürchtung ausräumen, fälschlich einzugreifen und damit selbst Normen zu verletzen.