Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
Theorie und Praxis der COVID-19-Eindämmung
Inferenz und Vorhersage der COVID-19 Ausbreitung
Ende Februar 2020 war klar, dass SARS-CoV-2 in Europa angekommen ist. Wir haben deswegen sofort ein Modell entwickelt, um die Reproduktionszahl R zu schätzen, die Wirksamkeit von Interventionen wie Lockdowns zu quantifizieren und Prognosen zu liefern [1]. Unsere Arbeit hat damit zeitkritische Informationen über Eindämmungsstrategien geliefert. Diese schnelle, wirksame Arbeit war nur möglich, weil wir am Campus Göttingen und innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft umgehend eine Expertengruppe gefunden haben, mit der wir uns fast täglich austauschen konnten.
Aerosole messen beim Sprechen, Singen, und Musizieren
Aerosole stellen ein zentrales Problem bei der Ausbreitung des Virus dar. Deswegen haben wir nicht nur deren Ausbreitung und die Wirksamkeit von Masken beim Sprechen Singen und Musizieren genau vermessen, sondern auch eine App entwickelt (https://aerosol.ds.mpg.de/en), die für jeden Raum genau berechnet, wann gelüftet werden muss. Das ist ein praktischer Beitrag zur Eindämmung.
Natürliche Gruppenimmunität
Gerade zu Anfang der Pandemie wurde das kontrollierte Erreichen einer natürlichen Gruppenimmunität viel diskutiert, und einige Länder sind diesen Weg aktiv gegangen. Anhand eines allgemeinen SIRS-Modells haben wir untersucht, unter welchen Umständen Gruppenimmunität ein tragfähiges Konzept sein könnte. SIRS steht für Susceptible-Infected-Recovered-Susceptible, also die typischen Zustände einer Infektionskrankheit wie COVID. Das Modell schließt ein, dass die Immunität nach einer Infektion langsam abklingt. Es stellt sich heraus, dass das Konzept der „natürlichen“ Gruppenimmunität für COVID-19 nicht funktionieren wird.
Stochastische Effekte erleichtern die Ausrottung von SARS-CoV-2, besonders in kleinen Gruppen
Zur Eindämmung von COVID-19 wurde oft die Mobilität eingeschränkt. Eine besondere Art dieser Maßnahme besteht darin, eine Region in kleinere Gruppen aufzuteilen und strikt nur innerhalb der Gruppen Kontakte zu erlauben. Wir haben gezeigt, dass dann stochastische Schwankungen zu einer lokalen Eradikation des Virus führen können: Diese Schwankungen reduzieren im Modell dann insgesamt den Höhepunkt einer Infektionswelle [2]. Ähnliche Effekte führen auch dazu, dass regionale Eindämmungsstrategien bei niedrigen Fallzahlen besonders effizient sind. Wichtig dabei ist aber, überregionale Infektionsketten zu verhindern. Um diese Effekte optimal zu nutzen, müssen Kontaktbeschränkungen schon bei vergleichsweise niedrigen Inzidenzen von circa 10 Infektionen pro 100 000 Einwohner in 7 Tagen greifen. Dafür kommt man insgesamt mit deutlich weniger Kontakteinschränkungen aus als bei einem nationalen Lockdown oder höheren Schwellenwerten der Inzidenzrate [3]. Unsere Empfehlung ist also klar: Spätestens bei einer Wocheninzidenz von 10 sollte lokal konsequent nachgesteuert werden [4].
Die Vorboten der zweiten Welle
Schon lange bevor die zweite Welle in Deutschland diskutiert wurde, haben wir sie klar kommen sehen: Die Fallzahlen haben sich stetig alle zwei bis vier Wochen verdoppelt, aber auf niedrigem Niveau: Von 500 auf 1000 auf 2000. Allerdings stiegen anfangs nur die Fallzahlen, nicht die Todesfälle. Diese Diskrepanz nährte Spekulationen, dass lediglich die Testzahl erhöht sei, nicht die Ausbreitung. Wir konnten diese scheinbare Diskrepanz auflösen, indem wir die Altersstruktur einbezogen haben. Bei niedrigen Fallzahlen waren die Älteren gut geschützt. Bei hohen Fallzahlen ist das wegen der hohen Dunkelziffer nicht mehr möglich. Die Ausbreitung sprang auf die Älteren über und die Todesfälle nahmen dann zu [5].
Niedrige Fallzahlen erleichtern die Kontrolle und sind besser für Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft
Die traditionellen Endpunkte einer Pandemie sind Ausrottung des Virus oder Herdenimmunität. Beide sind für COVID-19 derzeit nicht erreichbar. Wir haben analytisch die Existenz einer dritten, praktikablen Lösung gezeigt: ein Gleichgewicht bei niedrigen Fallzahlen und mittleren Kontaktbeschränkungen. Besonders spannend: Entweder ist unser Model bei einer Inzidenz von 10 oder weniger Neuinfektionen stabil – oder es erreicht einen Kipppunkt und gerät in ein exponentielles Wachstum. Bei gleichem Kontaktverhalten ist es bei niedrigen Fallzahlen also möglich, Stabilität zu erreichen und gleichzeitig Lockdowns zu vermeiden. Das hilft der Gesundheit, der Gesellschaft und der Wirtschaft [4, 7].
Testen, Kontaktnachverfolgen, Isolieren (TTI)
Das Test-Trace-und-Isolate-Verfahren (TTI) stellt ein vielversprechendes Werkzeug zur Eindämmung der Virusausbreitung dar. Eine ideale TTI-Strategie würde zur Eindämmung sogar ausreichen. Wie wirksam ist das TTI aber in der Realität? Ein Problem sind die prä- und asymptomatische Übertragung sowie TTI-Vermeider. So lange Menschen nicht wissen, dass sie infiziert sind, reduzieren sie ihre Kontakte nicht – und geben also das Virus ungewollt und stark weiter. Sie heizen die Ausbreitung damit an. Mathematisch haben wir dabei einen wichtigen Kipppunkt entdeckt: Sind die TTI-Kapazitäten überschritten, dann kommt es zu einer sich selbst beschleunigenden Ausbreitung. Wir haben das Mitte September veröffentlicht und dann im Herbst 2020 leider genau so erlebt: Ein Landkreis nach dem anderen entwickelte höhere Fallzahlen – und meist sind die Zahlen dann in die Höhe geschossen. Erst im Dezember wurde die Notbremse gezogen. Das ist ähnlich wie bei einem Brand: Anfangs (bei niedrigen Fallzahlen) reicht ein Gartenschlauch. Ist das Feuer aber zu groß, muss man zu drastischen Maßnahmen greifen. Je früher man die Feuerwehr ruft, desto besser [6].
Öffentlichkeitsarbeit und Politikberatung
Wir haben unsere Erkenntnisse in zahlreichen Positionspapieren, Zeitungsartikeln, Interviews und Talk-Shows vermittelt und viele Gespräche mit Politikerinnen geführt. Damit hat das Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation dazu beigetragen, die grundlegende Physik der Virusausbreitung, das exponentielle Wachstum und die Mathematik hinter den Eindämmungsmaßnahmen zu erklären und weiterzuentwickeln.
Literaturhinweise
EClinicalMedicine (ePub ahead of print)
Deutsches Ärzteblatt International 117, 790 (2020)