Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

China im Weltsystem der Wissenschaft

Autoren
Ahlers, Anna Lisa
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
Zusammenfassung
Die Volksrepublik China ist rasant zu einem der wichtigsten Akteure im Wissenschaftssystem geworden. Das Land produziert inzwischen die meisten Fachartikel und investiert massiv in Forschung im In- und Ausland. Erkenntnisse und Methoden von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in China erregen regelmäßig Aufsehen. Worauf fußen diese Entwicklungen und welche Effekte zeitigen sie? Die neue Lise-Meitner-Forschungsgruppe des MPIWG untersucht dies und widmet sich insbesondere den gesellschaftlichen Umwelten der Wissenschaft in China und den Herausforderungen der internationalen Forschungs-zusammenarbeit.

Die chinesische Regierung hat in den letzten Jahren mit zunehmender Vehemenz ihren Anspruch formuliert, China bis 2050 zur weltweit führenden Wissenschaftsmacht zu machen und fordert mittelfristig eine massive Steigerung genuin „chinesischer“ Beiträge zum globalen Wissenschaftssystem. Im Vergleich zu den Plänen für die Modernisierung von Forschung, Technologie und Ausbildung, die seit Beginn der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik im Jahr 1978 aufgelegt wurden, sind die aktuellen Politikprogramme weit umfassender und vielfältiger. Damit lässt die politische Führung zudem einen reinen Techno-Nationalismus hinter sich, denn die Expansion soll alle wissenschaftlichen Disziplinen umfassen, inklusive der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Der rasante Aufstieg des Landes in globalen Wissenschafts-Rankings in Kategorien wie Publikationsoutput und Forschungsfinanzierung bis hin zur Reputation von Universitäten und Forschungseinrichtungen, spiegeln den Erfolg dieser Strategie wider. Gleichzeitig wird diese Leistung weltweit unterschiedlich kommentiert. So wird einerseits befürchtet, dass China, ähnlich seiner enorm wachsenden Bedeutung in ökonomischer und politischer Hinsicht, auch im Wissenschaftssystem einen strukturverändernden Einfluss erlangen könnte; andererseits erscheint es vielen unmöglich, dass das Land unter den Bedingungen eines autoritären politischen Regimes eine echte wissenschaftliche Führungsrolle übernehmen kann.

Strukturen und Normen chinesischer Wissenschaftspolitik und -praxis – national und global

Neben einer genauen Darstellung der Strukturen, Dimensionen und Normen der gegenwärtigen chinesischen Wissenschaftspolitik und der Interaktionen von Wissenschaft und dem autoritären politischen Regime in China möchte die Lise-Meitner-Forschungsgruppe die aktuellen Entwicklungen in ihrer ganzen Komplexität betrachten. Dazu gehört zum Beispiel eine genaue Untersuchung der Versuche der politischen Steuerung von wissenschaftlichen communities und Individuen, aber ebenso eine Analyse der Handlungsspielräume und internationalen Netzwerke von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in China. Gleichzeitig wird die Bedeutung von Wissenschaft und die Rolle von Wissenschaftler*innen in der chinesischen Gesellschaft in den Blick genommen. Es scheint, dass „echte“ wissenschaftliche Analysen zunehmend wieder als Wert an sich und insbesondere für den politischen Prozess erachtet werden, beispielsweise in lokalen Pilotprojekten oder während öffentlicher Proteste. Deutet dies möglicherweise auf ein neues Modell chinesischer „Technokratie“ im 21. Jahrhundert hin?

Mediale Aufmerksamkeit erfährt auch immer wieder die Frage, ob gesellschaftliche Normen und forschungsethische Prinzipien zwischen China und dem Rest der Welt divergieren; zum Beispiel wenn Forscher:innen mit der Erwartung nach China gehen, dort uneingeschränkte Experimentiermöglichkeiten anzutreffen. Gibt es diese größere Freiheit in China wirklich und ist sie auf bewusste Strategien zur Schaffung eines Standortvorteils zurückzuführen oder auf die zu laxe Verfolgung von Regelbrüchen? Oder beruht sie tatsächlich auf einer anderen gesellschaftlichen Einstellung gegenüber dem, was moralisch und rechtlich erlaubt ist oder sein sollte (zum Beispiel Tierversuche), um wissenschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen?

Inklusiver und interdisziplinärer neuer Forschungsansatz

Im Gegensatz zu den umfangreichen Erkenntnissen, die in Studien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte, Epistemologie und der Herausbildung einzelner wissenschaftlicher Disziplinen in China gewonnen wurden, scheinen wir im Hinblick auf die gegenwärtigen Entwicklungen im chinesischen Wissenschaftssystem und dessen globale Integration lediglich über ein anekdotisches und vor allem quantitatives Verständnis zu verfügen. Hier möchte die Forschungsgruppe mit einer vor allem soziologischen und sozialanthropologischen Perspektive anknüpfen und sich dabei insbesondere auf die politischen und gesellschaftlichen Umwelten des Wissenschaftssystems im heutigen China konzentrieren. Es soll damit auch ein Beitrag zur vergleichenden Forschung und Theoriebildung geleistet werden, der über den Fall Chinas hinausgeht, wie zum Beispiel im Merton Project: Science and Political Regimes in the 21st Century.

Die Mitglieder dieser interdisziplinären Forschungsgruppe werden die vielen Facetten des Aufstiegs Chinas im modernen Wissenschaftssystem sowohl auf nationaler als auch auf lokaler und globaler Ebene erforschen. Der Begriff „Wissenschaft“ („science“) wird hier inklusiv verwendet und umfasst alle Disziplinen, einschließlich der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften. Den Projekten dieser Forschungsgruppe liegt die Annahme zugrunde, dass Wissenschaft ein globales Funktionssystem ist, das gemeinsame Institutionen, Ziele, Organisationen, Inklusionsformeln, Netzwerke und viele weitere Elemente enthält, die die Strukturen des Wissenschaftssystems bilden und Nationalitäten und Grenzen verschwimmen lassen. Eine wichtige Herausforderung wird daher auch sein, kontinuierlich zu klären, was „China“ oder „chinesisch“ in diesem Kontext tatsächlich bedeutet und ob diese Kategorisierung in einer Selbstbeschreibung oder durch Zuschreibung erfolgt.

Erste Projekte zu diversen faszinierenden Themen

Zu den ersten Projekten in der Gruppe gehören eine Studie über das Navigieren chinesischer Polarwissenschaftler:innen zwischen Forschung und Diplomatie, eine Analyse der Formen internationaler Forschungszusammenarbeit mit chinesischer Beteiligung, die gesellschaftliche und innerwissenschaftliche Debatte über Ethik in der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz in China sowie eine Untersuchung der scheinbaren Wechselbeziehung zwischen politischen Initiativen und der Entwicklung neuer wissenschaftlicher Disziplinen und communities in China am Beispiel der Afrikanistik. Darüber hinaus beginnt im Frühjahr 2021 die Arbeit an übergreifenden gemeinsamen Publikationsvorhaben und die Kooperation mit Gastwissenschaftlern und Gastwissenschaftlerinnen.

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