Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Physik
Darf’s ein bisschen weniger sein? Das Neutrino auf der Waage
Das Neutrino wird gerne als Geisterteilchen bezeichnet. Kein anderes bekanntes Materieteilchen kommt häufiger im Universum vor – und kein anderes ist so schwer zu fassen. Jede Sekunde durchdringen Milliarden von Neutrinos unseren Körper, ohne dass wir etwas davon spüren. Der Grund: Neutrinos wechselwirken nur sehr, sehr schwach mit Materie.
Bereits 1930 stellte Wolfgang Pauli die These auf, dass beim radioaktiven Zerfall, neben dem Elektron ein zweites Teilchen entstehen müsste, das Enrico Fermi später Neutrino taufte. 1956 wurde es erstmals experimentell nachgewiesen. Lange gingen Forschende davon aus, dass Neutrinos keine Masse besitzen. Erst Ende der 1990er-Jahre brachte eine damals neu entdeckte Neutrino-Eigenschaft, die Neutrino-Oszillation, die Wende. Es wurde klar: Das Neutrino muss eine sehr kleine Masse besitzen.
Wie misst man die Neutrinomasse?
Die genaue Bestimmung der Neutrinomasse ist eine der größten Herausforderungen in der Astroteilchenphysik. Eine mögliche Messmethode basiert auf dem radioaktiven Betazerfall, bei dem ein Elektron und ein Neutrino entstehen. Vereinfacht gesagt, wird bei dem Zerfall eine bestimmte Energiemenge freigesetzt, die sich das Elektron (Beta-Teilchen) und Neutrino teilen.
Das Elektron wird allerdings nie die gesamte Energie für sich beanspruchen können. Das Neutrino muss mindestens die Energie erhalten, die seiner Masse entspricht. Grundlage für diesen Zusammenhang ist Einsteins berühmte Formel E=m2. Das bedeutet: Wenn es gelingt festzustellen, wie viel Energie im Zerfall frei wird und wie viel davon das Elektron maximal bekommt, können wir auf die Neutrinomasse schließen.
In unserem Experiment, dem Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment (KATRIN, Abbildung 1)[1], messen wir die Energie von Millionen von Elektronen, die mit fast maximaler Energie entstehen und bestimmen ihre Energieverteilung. Aus der Form dieses Spektrums ergibt sich die Neutrinomasse.
Nur die energiereichen Elektronen zählen
Das über 70 Meter lange KATRIN (Abbildung 2) ist das bisher empfindlichste Experiment für die Neutrinomasse und in der Lage, bis in den Messbereich von 0,2 eV vorzustoßen. Das bedeutet eine Verbesserung der bisher erreichten Empfindlichkeit um einen Faktor zehn. Es bedient sich der radioaktiven Quelle Tritium (schwerer Wasserstoff). Die beim Zerfall freigesetzten Elektronen gelangen über eine Transporteinheit zum Vorspektrometer. Dort werden die Elektronen mit niedriger Energie bereits aussortiert.
Im Hauptspektrometer lassen sich die Elektronen mithilfe von Hochspannung weiter aussieben: Nur Elektronen mit einer Energie, die größer ist als die Gegenspannung, durchfliegen das gesamte Spektrometer und werden von einem Detektor gezählt. Konkret heißt das: Von einer Milliarde Elektronen aus dem Tritium-Zerfall schafft es nur ein einziges bis zu diesem Detektor. Die oben angesprochene Energieverteilung erhält man, indem man verschiedene Spannungen anlegt und aufzeichnet, wie viele Elektronen jeweils das Spektrometer passieren.
Die Neutrinomasse – Stand heute
Mein Team hat hierzu eine eigene Analysemethode entwickelt, die nun als Standard bei KATRIN zum Einsatz kommt. Seit dem Start im Juni 2018 haben wir mehrere Millionen Elektronen aus dem Zerfall von Tritium eingefangen und gemessen – und können jetzt sicher sagen, dass das Neutrino leichter ist als 0,8 eV ist [2,3]. Die bisherige Obergrenze lag bei 2 eV.
Weitere Messungen mit KATRIN werden diese Obergrenze noch weiter nach unten verbessern, zumal wir noch ganz am Anfang stehen: Das bisherige Ergebnis basiert auf der Auswertung von effektiv 50 Messtagen. Bis 2024 sind aber insgesamt 1.000 Messtage vorgesehen.
Der Schlüssel zu vielen offenen Fragen
Das Neutrino ist mit Abstand das häufigste Materieteilchen im Kosmos. Daher spielt es trotz seiner geringen Masse eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Universums. Wie haben sich die Strukturen gebildet? Wie entstanden Galaxien und Galaxienhaufen? Die Masse des Neutrinos ist bei der Untersuchung dieser Fragen ein wichtiger Baustein.
Auch für die Teilchenphysik ist die Masse des Neutrinos ein zentrales Problem. Verglichen mit der Masse der anderen Elementarteilchen im Standardmodell ist sie winzig: Das Elektron, das zweitleichteste Teilchen, ist eine Million Mal schwerer als das Neutrino. Das Neutrino scheint diesbezüglich also nicht zu den anderen Teilchen zu passen. Möglicherweise erhält es seine Masse nicht über den Higgs-Mechanismus, sondern auf gänzlich anderem Weg.
Die Suche nach einem neuen Neutrino
Beim Neutrino handelt es sich nicht um ein einziges Teilchen: Neben dem Elektron-Neutrino gibt es das Myon- und das Tau-Neutrino. Daneben wird noch eine weitere Variante vermutet: Die Gruppe der sterilen Neutrinos. KATRIN könnte diese neue Neutrino-Art zutage fördern [4]. Besonders interessant ist hierbei die schwere Variante.
Sie wäre noch schwieriger nachzuweisen als das Standard-Neutrino, könnte aber ein wichtiges Rätsel lösen: Das der Zusammensetzung der Dunklen Materie, die 25 Prozent unseres Universums ausmacht und damit den Anteil sichtbarer Materie – 5 Prozent – weit übersteigt. Um dieses hypothetische Neutrino zu entdecken, entwickelt unsere Gruppe derzeit einen Detektor, der nach Abschluss der Massemessung im Jahr 2024 in KATRIN eingebaut wird [5].
Die an KATRIN beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wollen dazu beitragen, das Mysterium Neutrino weiter zu entschlüsseln. Doch selbst wenn wir in ein paar Jahren die exakte Masse des Teilchens kennen, ist das nur ein weiterer Schritt, die Physik des Universums besser zu verstehen – viele Fragen bleiben weiterhin offen.