Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik
Zellkontakte steuern die Regeneration
Einleitung
Regeneration bedeutet die Wiederherstellung ganzer Körperteile oder Gewebestrukturen, und eine fehlende Regenerationsfähigkeit führt zu Krankheiten. Schon die alten Griechen beschrieben in der klassischen Sage von Prometheus, dessen Leber trotz Verletzung immer wieder nachwuchs, dass sich die Leber nach einer Schädigung als äußerst regenerationsfähig erweist. Die Wiederherstellung der Gewebearchitektur und -funktion stellt jedoch auf allen Ebenen (von Molekülen bis zu Geweben und Organen) für den Körper ein Problem dar. Auf der Ebene der Gewebe und Organe erfordert sie eine Wiederherstellung von Architektur und Form. Auf molekularer und zellulärer Ebene bedeutet Regeneration, dass die Zellen Veränderungen in ihrer Mikroumgebung wahrnehmen und darauf reagieren müssen, einschließlich (bio)chemischer (Moleküle/Stoffwechsel-Pfade), zellulärer (Zell-Zell- und Zell-Matrix-Interaktionen) und physikalischer Parameter (Druck, Zelloberflächenspannung oder Zelladhäsion).
Am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden erforscht unsere Forschungsgruppe die Mechanismen, welche die Geweberegeneration regulieren, in einem interdisziplinären und mehrskaligen Ansatz, mit dem Ziel, das Regenerationspotenzial von Säugetiergeweben zu verbessern oder zu wecken und damit Krankheitszustände zu lindern. Unser Labor hat nun herausgefunden, dass direkte Zell-Zell-Kontakte zwischen einem bisher nicht berücksichtigten Leberzelltyp - der mesenchymalen Zelle - und dem benachbarten Epithel die Regenerationsfähigkeit der Leber regulieren, indem sie diese entweder aktivieren oder stoppen, was entsprechende Auswirkungen auf Krankheiten hat.
Zell-Zell-Interaktionen im Zentrum des Regenerationsprozesses
Im Gegensatz zu sich vermehrenden Geweben, wie zum Beispiel dem Darm, in denen Vermehrungs- und Differenzierungsprogramme grundsätzlich aktiv sind, erfordert die Regeneration von nicht-proliferativen Geweben zunächst das “Aufwecken/Einschalten” des Regenerationsprogramms, um später in den basalen, “ruhenden” Zustand zurückzukehren. Die Leber ist ein hervorragendes Modell für ein solch ruhendes Gewebe, an dem die Mechanismen der Geweberegeneration bei Säugetieren untersucht werden können. Hier finden sich als funktionelle Epithelzellen die Hepatozyten und die Duktalzellen. Diese Zellen arbeiten mit anderen nicht epithelialen Zellen (z. B. Blutgefäßen oder mesenchymalen Zellen) zusammen, um die komplizierte Architektur des Leberläppchens zu erzeugen. Im Leberläppchen kommt es zu komplexen Zell-Zell-Interaktionen zwischen gleichen (homotypischen) oder unterschiedlichen (heterotypischen) Zellen, die über die gesamte Lebensspanne des Organismus aufrechterhalten werden. Eine toxische Schädigung führt zum Verlust dieser Interaktionen, und chronische toxische Einflüsse, wie Drogen oder Alkohol, führen zu einem funktionsgestörten Gewebe, das entweder vernarbt (Fibrose) oder sich unbegrenzt vermehrt und damit Krebs entwickelt. Um die Funktion wiederzuerlangen, müssen Interaktionen wiederhergestellt werden, welche die Aktivierung oder Unterbrechung des Regenerationsprozesses steuern. Die dafür verantwortlichen Mechanismen, insbesondere der heterotypischen Zell-Zell-Interaktionen, sind jedoch kaum verstanden.
Wir haben herausgefunden, dass eine gesunde Leber eine bestimmte Anzahl von Zellinteraktionen zwischen den Epithelzellen (Duktalzellen) und den Stromazellen (Mesenchymzellen) besitzt. Diese Anzahl ist entscheidend und scheint das Verhalten des Epithels zu bestimmen. In einem unbeschädigten (homöostatischen) Gewebe deuten die Interaktionen zwischen beiden Populationen darauf hin, dass die mesenchymalen Zellen das Epithel in einem ”inaktiven/ruhenden” Zustand halten. Bei einer Schädigung sind diese Wechselwirkungen jedoch gestört, und aus noch ungeklärten Gründen vermehren sich beide Zellpopulationen, allerdings in unterschiedlichem Tempo. Die Duktalzellen vermehren sich zuerst, wodurch sich die Zahl der Zellinteraktionen mit dem benachbarten Stroma verringert. Wenn der Schaden behoben ist, beginnen die Mesenchymzellen sich zu vermehren, bis sie eine hohe Anzahl erreichen und die ursprünglichen Kontakte wiederherstellen, was mit einer Beendigung der Vermehrung und der Verringerung der Zahl der Epithelzellen korreliert.
Ein Paradox der Geweberegenerierung : Weniger ist mehr und mehr ist weniger
Die Visualisierung von zellulären Interaktionen im lebenden Tier, die sich im Laufe der Zeit dynamisch verändern, stellt gegenwärtig eine große Herausforderung dar. Abhilfe schaffen Leberorganoid-Kulturen, welche die Leber in der Perischale nachbilden. Wir haben unsere Leberorganoid-Kulturen weiterentwickelt, um verschiedene Zelltypen einzubinden und komplexe vielzellige Leberorganoid-Strukturen zu bilden. Diese Mikrogewebe lassen sich lebend unter dem Mikroskop untersuchen und ermöglichen so die direkte Abbildung der zellulären Abläufe in Echtzeit.
Bei der Verwendung dieses neuartigen Systems beobachteten wir ein bisher unbekanntes, aber sehr interessantes Paradoxon: Das Gewebe (Organoid) schrumpfte bei Kontakt mit den Mesenchymzellen wuchs aber, wenn kein Kontakt bestand. Dieses paradoxe Verhalten stimmt mit den Beobachtungen während der Schadensreaktion im Gewebe überein und könnte zur Erklärung beitragen, warum das Gewebe während des Regenerationsprozesses entweder wuchs oder aufhörte zu wachsen. Aus unseren Beobachtungen schlussfolgern wir, dass nicht die Anzahl der beiden Zelltypen, sondern die Zahl der Zellkontakte bestimmt, wie viele Zellen zur Reparatur des beschädigten Gewebes produziert werden. Zu viele Interaktionen zwischen verschiedenen Zelltypen bedeuten, dass weniger oder keine neuen Duktalzellen gebildet werden, während zu wenige bedeutet, dass mehr Zellen gebildet werden. Diese Regulierung könnte von entscheidender Bedeutung sein, da ein fehlendes Signal für die duktalen Zellen, die Vermehrung zu stoppen, zu Krebs führen könnte. Wenn wiederum die mesenchymale Population nicht gestoppt wird, kann dies zu Narbenbildung und Zirrhose führen.
Da Organe wie die Lunge oder die Niere ebenfalls auf chronische Schädigung reagieren, indem sie Fibrose oder Krebs entwickeln, ist es naheliegend zu vermuten, dass die Mechanismen, wie sie in der Leber beobachtet wurden, auch auf andere Gewebe oder Systeme übertragbar sind, in denen sich die Anzahl der Zellen als Reaktion auf eine Gewebsschädigung dynamisch verändert.