Forschungsbericht 2021 - Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft
Kontrolle von Materialeigenschaften durch Phasenübergänge fernab des Gleichgewichts
Ein grundlegendes Konzept in der Physik sind Ordnungsphänomene. Zum Beispiel geht Wasser beim Gefrieren von einem System mit hoher (Rotations-) Symmetrie in eine Phase über, in der diese Symmetrie gebrochen ist. Ein Maß zur Beschreibung der Symmetriebrechung ist der sogenannte Ordnungsparameter, der häufig mit einer Änderung wesentlicher Materialeigenschaften einhergeht. Zeigt ein System eine Instabilität hin zu einer geordneten Phase, beispielsweise durch Variation der Temperatur unterhalb einer Übergangstemperatur Tc, entwickelt die freie Energie Minima mit endlichem Ordnungsparameter (Abbildung 1). Entsprechend thermodynamischer Prinzipien führt die Minimierung der Energie zum spontanen Auftreten von Ordnung und einem Phasenübergang, der durch die Form der Energielandschaft vorgegeben ist. Diese charakterisiert den Verlauf der freien Energie eines Systems in Abhängigkeit von einer bestimmten physikalischen Größe. Als Beispiel sei hier die Ordnung der Elektronenspins in einem magnetischen System genannt: Unterhalb der Curie-Temperatur richten sich die Elektronenspins der Atome in einer Richtung aus.
Während diese fundamentalen thermodynamischen Konzepte seit vielen Jahrzehnten bekannt sind, sind viele Fragen hinsichtlich der Eigenschaften der Energielandschaften und der mikroskopischen dynamischen Prozesse während eines Phasenübergangs bislang unbeantwortet. Unsere Forschung am Fritz-Haber-Institut widmet sich unter anderem der Frage, ob sich die dynamische Entwicklung der mikroskopischen Symmetriebrechung in Festkörpern nach einer abrupten Änderung der Energielandschaft aus dieser bestimmen lässt. Und kann man solche Energielandschaften manipulieren, um gezielt Ordnungszustände zu erzeugen, die im thermodynamischen Gleichgewicht nicht vorkommen und neue Materialeigenschaften und Funktionalitäten besitzen?
Einblicke durch ultrakurze Lichtblitze
Um solche abrupten Änderungen der Energielandschaften herbeizuführen, verwenden wir ultrakurze Lichtblitze mit Pulsdauern auf der Zeitskala elementarer Prozesse in Festkörpern im Bereich von 10-14 s. Wenn innerhalb der mit einem solchen Laserpuls optisch modifizierten Energielandschaft eine Neuordnung beispielsweise der magnetischen Konfiguration [1] oder der Kristallgitterstruktur [2] einen energetischen Vorteil bietet, tritt ein Phasenübergang auf. Aus dem zeitlichen Verlauf der elementaren Bestandteile eines Festkörpers – also den Elektronen, Atomen, Spins und Orbitalen – während solch eines dynamischen Phasenübergangs können Erkenntnisse über die relevanten Wechselwirkungen sowie die Energielandschaft selbst gewonnen werden. Dazu verwenden wir eine Vielzahl komplementärer Messmethoden basierend auf Ultrakurzzeit-Lasern in den Laboren des Fritz-Haber-Instituts und auf Strahlungsquellen an Großforschungsanlagen wie dem Synchrotron Bessy II des Helmholtz-Zentrums Berlin.
Ordnungsparameter in Bewegung
Ein besonders häufig auftretendes Phänomen in modernen Quantenmaterialien ist eine gekoppelte Verzerrung der Kristallgitter- und elektronischen Struktur bei tiefen Temperaturen. Da diese strukturelle Umordnung in engem Wechselspiel mit der Hochtemperatur-Supraleitung steht, ist ein detailliertes Verständnis dieser Phase von großer Bedeutung. Einen vielversprechenden Ansatz hierzu bietet die Anregung mit ultrakurzen Lichtblitzen.
Als Modellsystem zur Untersuchung eines solchen Phasenübergangs haben wir einen quasi-zweidimensionalen Schichtkristall – TbTe3 – gewählt, der eine ausgeprägte Gitter- und Ladungsordung bereits ab Raumtemperatur entwickelt. Die optische Anregung verursacht eine vorübergehende Unterdrückung der atomaren und elektronischen Verzerrung und ermöglicht es, aus deren Dynamik Rückschlüsse auf die Interaktion von Atomen und Elektronen sowie den Verlauf der zugrundeliegende Energielandschaft zu ziehen [3]. Erstaunlicherweise beobachten wir nach der optischen Anregung keine monotone Abnahme und Wiederkehr, sondern eine Schwingung der Kristallgitter- und Ladungsverzerrung (Abbildung 2a). Über den zeitlichen Verlauf des Ordnungsparameters, der hier als Maß für die Verzerrung steht, können wir anschließend die dynamische Energielandschaft im Detail rekonstruieren (Abbildung 2b).
Die Rekonstruktion zeigt, dass die Laserpulse die Energielandschaft deutlich verändern, wodurch das System in die unverzerrte Konfiguration entsprechend des neuen energetischen Minimums übergeht. Durch die vorhandene kinetische Energie schießt das System jedoch über die energetisch optimale Konfiguration hinaus und oszilliert um das Minimum des parabelförmigen Potentials – ähnlich wie ein Skateboarder in einer Halfpipe. Die Schwingungen zwischen verzerrter und unverzerrter Anordnung ermöglichen es uns zudem zu verstehen, wie die grundlegenden Wechselwirkungen, etwa die gegenseitige Beeinflussung von Elektronen, durch die Ausbildung der verzerrten Phase verändert werden [4].
Materialeigenschaften auf Knopfdruck
Ein genaues Verständnis der Energielandschaften erlaubt es, mithilfe von optischen oder elektrischen Pulsen gezielt Phasenübergänge herbeizuführen und somit Materialeigenschaften, wie die elektrische Leitfähigkeit oder die Stärke eines Magneten, auf ultraschnellen Zeitskalen zu kontrollieren. In Materialen mit besonders komplexen Energielandschaften erlaubt die Anregung mit ultrakurzen Lichtpulsen zudem die Stabilisierung von Phasen, die im Gleichgewicht, also beispielsweise durch eine langsame Änderung von Temperatur oder Druck, nicht erreicht werden können [5]. Diese versteckten Phasen erweitern noch zusätzlich die umfangreiche Funktionalität von Quantenmaterialien und ermöglichen durch ihre ultraschnelle Schaltbarkeit neue Konzepte zur Datenspeicherung.