Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung
Komplexe Emulsionen zur chemischen Signalverarbeitung – Tropfen für Tropfen neue Technologien erschließen
Die Emulgierung ist ein leistungsfähiges, uraltes, skalierbares und wirtschaftliches Verfahren zum Mischen und Dispergieren einer flüssigen Komponente innerhalb einer weiteren nicht mischbaren flüssigen Phase. Während flüssige Einphasentropfensysteme allgegenwärtig sind, ermöglicht die Einführung einer weiteren, nicht mischbaren orthogonalen flüssigen Phase die Herstellung von Mehrkomponenten-Tröpfchensystemen, sogenannten komplexen Emulsionen. Diese eröffnen ein einzigartiges, bisher ungenutztes Potential für die Erschließung neuer Technologien.
Komplexe Emulsionen bestehen aus Tröpfchen, zusammengesetzt aus zwei oder mehr nicht miteinander mischbaren flüssigen Phasen, welche idealerweise eine einheitliche definierte innere Tropfenstruktur aufweisen. Solche Tropfen sind über einen einfachen temperaturbasierten Phasenseparationsansatz zugänglich (Abb. 1). Komplexe Emulsionen können hierdurch sowohl basierend auf organischen als auch wässrigen Mehrphasengemischen leicht, zügig, in großem Maßstab und in einer großen kompositionellen Vielfalt hergestellt werden.1, 2 Die flüssig-flüssig Grenzflächen solcher mehrphasigen Emulsionen sind hochdynamisch und dadurch in der Lage, auf chemische Ereignisse in ihrer Umgebung, etwa ausgelöst durch molekulare Wechselwirkungen, zu reagieren und sich anzupassen, indem sie zum Beispiel ihre innere Zusammensetzung oder Struktur ändern.3 Diese intrinsische Responsivität prädestiniert komplexe Emulsionen für deren Einsatz als neuartige Systeme für eine chemische Signalverarbeitung, welche gezielt und spezifisch (bio-)chemische Reize in eine gezielte Aussendung eines auslesbaren Signals übersetzen können.
Inspiriert ist unsere Forschung durch die einzigartigen autonom regulatorischen Fähigkeiten der Natur. So reichen den Grundeinheiten des Lebens – Zellen – einzelne molekulare Erkennungsprozesse oder Wechselwirkungen an deren Oberflächen aus, um gezielt, ohne jegliche externe Steuerung durch das Gehirn oder einen Computer, eine Fortbewegung ganzer Zellverbände hervorzurufen, eine zielgerichtete Verstoffwechselung von Zuckern zur zellulären Energieversorgung zu ermöglichen oder eine Freisetzung von Entzündungshemmern als Immunantwort zu bewirken. Diese autonome, höchst substratspezifische Regulierung chemischer Reaktivität in Signalkaskaden ist entscheidend für das Funktionieren und Überleben lebender Organismen. Häufig liegen diese Fähigkeiten in der multikompartmentalisierten Zusammensetzung natürlicher Kolloide wie menschlichen Zellen oder Bakterien begründet. Einzelne Reaktionszentren, wie zum Beispiel Enzyme, werden innerhalb von Zellen oder subzellulären Organellen so räumlich voneinander getrennt, dass nur ein spezifischer Input eine Kommunikation zwischen Reaktionszentren ermöglicht und dadurch ganze Reaktionskaskaden in Gang gesetzt und moduliert werden können. Eine Nachahmung dieses Wirkprinzips innerhalb synthetisch minimaler, bioinspirierter Modellsysteme, wie komplexen Emulsionen, kann dazu beitragen, die zugrunde liegenden komplexen Kaskadenmechnismen besser zu verstehen und den Weg hin zur Entwicklung künstlich intelligenter, sich dynamisch selbstregulierender Systeme für Anwendungen zu ebnen. Hierzu zählt zum Beispiel die Biosensorik, eine gezielt gesteuerte Freigabe von Wirkstoffen oder die Entwicklung autonom agierender Mikroroboter.
Hocheffiziente Biosensoren basierend auf responsiven Multiphasenemulsionen
Die komplexen Emulsionen ähneln sowohl in ihrer Größe, ihrem dynamisch flüssigen Charakter als auch den reaktiven Grenzflächen natürlichen Zellen und können über Rezeptoren an ihrer Oberfläche mit Bakterien interagieren, ähnlich wie diese untereinander oder mit menschlichen Zellen kommunizieren. So können kleinste Veränderungen in der chemischen Tröpfchenumgebung, wie die Anwesenheit eines bestimmten Analyten, mikroskalige Veränderungen in der inneren Morphologie der Tröpfchen auslösen, die wiederum zu sichtbaren, makroskopischen Veränderungen der optischen Eigenschaften, etwa einer Farbänderung, einem geänderten Streuverhalten oder dem Aussenden eines Fluoreszenzsignals, führen.4 Wir konnten zeigen, dass diese einzigartige chemisch-morphologisch-optische Kopplung innerhalb zweiphasiger Emulsionen die Entwicklung und Implementierung dieser als leicht und universell einsetzbaren Wandler und Signalverstärker in flüssigen Sensorplattformen ermöglicht. Erste Demonstrationen für den schnellen und kostengünstigen Nachweis von Krankheitserregern in Lebensmitteln haben gezeigt, dass solche auf komplexen Emulsionen basierende Sensorparadigmen eine Empfindlichkeit bieten, welche herkömmlichen Methoden in vielen Belangen überlegen ist.
Von der Strukturkontrolle hin zu adaptiven Tropfensystemen
Aufbauend auf den Responsivitätseigenschaften, die äußere Reize in einen binären An-Aus-Zustand übersetzen, konnten wir zeigen, dass solche komplexen Emulsionssysteme sich auch selbstreguliert an multiple Änderungen in ihrer Umgebung anpassen können. Anhand einer gezielten Funktionalisierung der unterschiedlichen Grenzflächen in Kombination mit einer Kompartmentalisierung aktiver molekularer, partikulärer oder biomakromolekularer Komponenten wie Enzymen lassen sich komplexe Emulsionen generieren, die durch kleinste Änderungen in ihrer Umgebung in einen Zustand außerhalb des thermodynamischen Gleichgewichts überführt werden können. So können sie reversibel an Oberflächen anbinden, kontrolliert innerhalb der Tropfen gelöste Komponenten abgeben oder andere aufnehmen, wodurch sich wiederum chemische Reaktionswege und -geschwindigkeiten innerhalb der Tropfen steuern lassen .3 Ein ständiger Austausch von Molekülen zwischen einzelnen Emulsionstropfen erlaubt eine inter-kolloidale Kommunikation solcher Systeme und damit eine an die jeweilige chemische Umgebung angepasste Steuerung mehrstufiger chemischer Reaktionen (Abb. 2).5
Solche adaptiven Tropfensysteme geben Anlass zur Spekulation über die Herstellung künstlich chemo-intelligenter, lebensähnlicher Weichmaterialien, welche kollektive Funktionen mit Rückkopplungsfähigkeiten ausführen können, und stellen damit ein Paradebeispiel dar, wie sich bioinspirierte Eigenschaften in neue technologische Lösungen übersetzen lassen. Basierend auf den Ergebnissen der physikalisch-chemischen Grundlagenforschung gilt es nun, in Kollaboration mit den einzelnen Arbeitsgruppen am Institut, das technologische Potential dieser neuartigen Flüssigkolloide Schritt für Schrit beziehungsweise Tropfen für Tropfen vollständig zu erschließen.