Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für Festkörperforschung
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – neue Perspektiven auf komplexe Quantensysteme mit vielen Teilchen
Von Aristoteles („Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“) [1] bis zu P. W. Anderson („More is different“) [2] – die enorme Vielfalt von Phänomenen, die aus der Wechselwirkung zwischen vielen Komponenten eines Systems hervorgehen können, hat die Menschheit, von den Anfängen der Wissenschaft in der Naturphilosophie bis hin zur Quantenphysik, seit jeher fasziniert. Die Beispiele hierfür sind zahlreich und reichen vom Schwarmverhalten von Vögeln in der Biologie, über neuronale Netzwerke in der Informatik bis hin zur Systemtheorie, die in der Soziologie und in den modernen Politikwissenschaften Anwendung findet. All diese Systeme haben eine Gemeinsamkeit: Ihre Bestandteile wechselwirken stark miteinander, sodass nicht einfach von den Eigenschaften der einzelnen Komponenten auf das Verhalten des jeweiligen Systems als Ganzes geschlossen werden kann.
Komplexe Systeme in der Physik: Hochtemperatur-Supraleiter
In der Physik sind die prototypischen Beispiele für Systeme mit vielen Bestandteilen sogenannte Festkörper. Deren wichtigste Komponenten sind rund 1023 negativ geladene Elektronen, die sich durch ein Kristallgitter bewegen, das von Atomrümpfen aufgebaut wird. Durch die elektrische Coulomb-Wechselwirkung interagieren diese Teilchen stark miteinander. Dies lässt sich in bestimmten Fällen durch ein effektives Einteilchenbild beschreiben, in welchem man die durchschnittliche Wechselwirkung eines (eventuell „renormierten“) Elektrons mit dem Rest des Systems berechnet. Eine moderne Variante dieser Methode ist die sogenannte Dichtefunktionaltheorie.
Besondere Aufmerksamkeit haben in den vergangenen Jahrzehnten sogenannte stark korrelierte Elektronensysteme erhalten, in denen genau diese effektive Beschreibung zusammenbricht. Der Grund dafür sind hohe Abweichungen der Werte von Messgrößen von den Mittelwerten der Einteilchenbeschreibung in der Zeit und im Raum. Man spricht von zeitlichen und räumlichen Korrelationen. Ein sehr bekanntes Beispiel für solche stark korrelierten Systeme sind keramische Kupferoxide, die sogenannten Kuprate, welche bereits bei relativ hohen Temperaturen (oberhalb der Siedetemperatur von flüssigem Stickstoff von etwa –196°C) ihren elektrischen Widerstand verlieren und somit verlustfrei elektrischen Strom leiten können. Dieser faszinierende Effekt hat dazu geführt, dass sich viele Forscherinnen und Forscher intensiv mit stark korrelierten Systemen auseinandersetzen.
Vereinfachungen: von der Fruchtfliege zum Hubbard-Modell
Einen Zugang, solche komplexe Systeme trotz des Zusammenbruchs von Einteilchenbeschreibungen verstehen zu können, liefern Modelle, die zwar möglichst simpel sind, jedoch zugleich die Essenz des zu untersuchenden Phänomens beinhalten. Ein Beispiel aus der Biologie stellt die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) dar, die sich aufgrund ihrer geringen Anzahl von Chromosomen sehr gut für das Studium der klassischen Genetik eignet.
Das Modell für stark korrelierte Elektronensysteme par excellence ist das sogenannte Hubbard-Modell (Abb. 1). Es beschreibt die Bewegung der Elektronen eines Festkörpers derart, dass diese von einem Gitterplatz zum nächsten quantenmechanisch tunneln können. Durch das Pauli-Prinzip ist die Anzahl der Elektronen, die sich gleichzeitig auf einem Gitterplatz aufhalten können, auf zwei (mit unterschiedlichem Spin) beschränkt. Die Coulomb-Wechselwirkung wird durch eine rein lokale Wechselwirkung angenähert, das heißt dass diese nur dann aktiv ist, wenn sich zwei Elektronen auf dem selben Gitterplatz befinden.
Trotz dieser enormen Vereinfachungen kann das Hubbard-Modell viele Aspekte von stark korrelierten Systemen qualitativ sehr gut beschreiben (beispielsweise Metall-Isolator-Übergänge, magnetische Phasen und Supraleitung, Abb. 2). Allerdings ist das Modell, bis auf die Grenzfälle von einer und unendlich vielen räumlichen Dimensionen, nicht exakt lösbar. Um Einsichten für real existierende Materialien (wie die oben erwähnten Kuprate) zu gewinnen, sind jedoch gerade solche Berechnungen in zwei oder drei räumlichen Dimensionen nötig. Diese Notwendigkeit und der gleichzeitige Fortschritt in der Hochleistungsrechner-Technologie gab der numerischen Behandlung des quantenmechanischen Vielteilchenproblems in den letzten drei Jahrzehnten enormen Aufschwung. Diese Bemühungen haben wir in einem kürzlich erschienenen Review-Artikel zusammengefasst [3].
Eine neue Perspektive: multi-method, multi-messenger Untersuchungen von starken Korrelationen
Computergestützte Methoden zur Lösung des Hubbard-Modells lassen sich grob in numerisch exakte und approximative Methoden unterteilen. Erstere können die exakte Lösung des Modells liefern, sind allerdings nicht in allen Bereichen des Parameterraums des Modells (Wechselwirkungsstärke, Dotierung, Temperatur, etc.) anwendbar. Gerade in experimentell relevanten Bereichen ist man daher auf Näherungsmethoden angewiesen. In einem kürzlich veröffentlichten Artikel [4] schlagen wir eine leistungsstarke neue Perspektive auf die angenäherte Lösung des Hubbard-Modells vor, den sogenannten multi-method, multi-messenger Zugang, bei dem mit verschiedenen Methoden (multi-method) unterschiedliche Messgrößen (multi-messenger) berechnet werden. Mit den Nachteilen der verschiedenen Methoden im Hinterkopf konnten wir durch diese Kombination von Methoden neue Erkenntnisse über das Hubbard-Modell bei halber Füllung auf dem Quadratgitter gewinnen, insbesondere in jenen Bereichen, in denen Konsens zwischen sehr unterschiedlichen Methoden besteht. Diese Perspektive wurde nun auch bereits erfolgreich zur Beschreibung des Nicht-Curie-Weiss-Verhaltens der magnetischen Suszeptibilität in einem Nickelatmaterial angewandt [5].
Der multi-method, multi-messenger Zugang birgt somit das Potential, weitere wichtige Erkenntnisse über das Hubbard-Modell zu ermöglichen (beispielsweise die endgültige Festlegung seines Phasendiagramms, siehe Abb. 2) und uns dem Verständnis von stark korrelierten Elektronensystemen wie den Kupraten ein großes Stück näher zu bringen.