Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
Die Welt - ein Spiel?
All the world – a game?
Statistische Physik von Gemeingutspielen
Mit den Methoden der statistischen Physik lassen sich komplexe kollektive Phänomene in Materie, wie zum Beispiel Phasenübergänge, sehr zuverlässig beschreiben. Aber auch bestimmte kollektive gesellschaftliche Prozesse, wie etwa das Pandemie-Management, die Akzeptanz öffentlicher Verkehrsmittel oder die Diskriminierung von Minderheiten, sind einer mathematisch-physikalischen Behandlung zugänglich [1,2,3]. Können wir diese Methoden nutzen, um auch komplexe gesellschaftliche Phänomene zu beschreiben, wie zum Beispiel das Maß an Kooperation in einer Gesellschaft oder „Phasenübergänge“ wie Unruhen oder Revolutionen? Gerade vor dem Hintergrund der enormen gesellschaftlichen Probleme, mit denen uns die Klimakrise unweigerlich konfrontieren wird, wäre es sehr wünschenswert, gesellschaftliche Instabilitäten ähnlich zuverlässig beschreiben, simulieren und vielleicht sogar vorhersagen zu können, wie das beim Weltklima inzwischen möglich ist.
Eine mathematische Modellierung sozialer Interaktionen ist mit dem Modell der Gemeingut-Spiele möglich. Dabei investiert eine Anzahl von Spielern jeweils einen selbst gewählten Beitrag in einen Gemeingut-Topf. In jeder Runde wird der Topfinhalt mit einem zuvor festgelegten Faktor multipliziert (Rendite) und an die Spieler zu gleichen Teilen ausgezahlt. Die Stärke des Modells liegt in seiner Allgemeingültigkeit, denn es ist unerheblich, ob das Gemeingut in der gemeinsamen Gewinnchance einer Lotto-Wettgemeinschaft besteht oder beispielsweise in der guten Stimmung in einer Wohngemeinschaft, in die jeder durch aktive Beteiligung an Putzen, Geschirrspülen, Einkaufen etc. beiträgt.
Die Schwäche des Modells besteht darin, dass die in mathematischen Modellen bisher verwendeten Modellakteure stets genügend Rechenzeit zur Verfügung haben und daher „optimal“ spielen, d.h. sie spielen nach dem spieltheoretischen Optimum, dem sog. Nash-Gleichgewicht (benannt nach seinem Entdecker John Forbes Nash, dem auch der Film „A Beautiful Mind“ gewidmet ist). Solche Akteure zahlen allerdings, das lässt sich mathematisch beweisen, so wenig wie möglich ein, handeln also maximal unsozial, was Menschen ja de facto nicht tun.
Eine neuere Entwicklung sind daher Modellakteure mit „bounded rationality“, also mit eingeschränkter kognitiver Kapazität. Tatsächlich denken wir bei unseren alltäglichen Handlungen, z.B. ob wir jemanden begrüßen oder nicht, die Straße überqueren oder nicht, nicht stundenlang nach, wie ein Schachspieler während eines Turniers. Im Alltag spielen wir meist eher Blitzschach! Wir konnten zeigen, dass sich solche eingeschränkten Modellakteure so justieren lassen, dass sie das in experimentellen Spiel-Settings beobachtete Spielverhalten menschlicher Spieler perfekt reproduzieren, sowohl was die mittlere Investition ins Gemeingut betrifft, als auch deren zeitliche Schwankungen [4]. Die Modellparameter können dabei überwiegend menschlichen Eigenschaften wie Geduld, Altruismus oder Kognition zugeordnet werden, über die es weltweit und kulturübergreifend Untersuchungen gibt (und daher auch entsprechende Datensätze).
Die Gesellschaft als Netzwerk von Gemeingutspielen
Soweit zu isolierten Spielsituationen, aber wie können wir eine ganze Gesellschaft in diesem Bild darstellen? Hier hätten wir es mit einem komplexen Netzwerk aus Spielen zu tun: jemand spielt in einer Wettgemeinschaft (Spiel Nr. 1), in der auch eine andere Person mitspielt, die in einer Wohngemeinschaft lebt (Spiel Nr. 2), beide sind im lokalen Basketballverein (Spiel Nr. 3), und alle (oder die meisten) bemühen sich, durch möglichst gesetzeskonformes Verhalten (d.h. durch Investition von Freiheitsverzichten) restriktivere Gesetzgebung bzw. -Auslegung zu vermeiden (Gemeingut „freizügige Gesellschaft“, Spiel Nr. 4). Die Gesellschaft besteht, in diesem Bild, aus einer Unzahl von Spielen, die sehr verschiedene Mitspielerzahlen haben und über die jeweils ihnen gemeinsamen Mitspieler miteinander verbunden sind. Mathematisch handelt es sich bei den so entstehenden Strukturen um Hypergraphen, die sich aber auf einfache Graphen abbilden lassen.
Dies ist beispielhaft in Abb. 1 zu sehen, wo jeder der auf dem Kreis markierten Punkte eine Spielgruppe bedeutet und jede Linie für (mindestens) einen gemeinsamen Spieler steht. In jeder der 25 Gruppen spielen vier Spieler mit. In den Netzwerken (a) und (b) sind die Beteiligungen der Spielenden an den Spielgruppen zufällig ausgewürfelt. Die Linien in (c) entsprechen einer Anordnung von Gruppen und Spielenden auf einem regelmäßigen Quadratgitter, daher die überwiegende Zahl der Spielgruppen mit je vier Partnergruppen. Die stark unterschiedlichen Strukturen der Netzwerke sind klar erkennbar.
Verwendet man nun als Mitspieler unsere Modellagenten, die sich in den einzelnen Spielgruppen ja schon als sehr menschenähnlich erwiesen haben [4], so erhält man ein bemerkenswertes Ergebnis, das in Abb. 2 dargestellt ist. Nach oben aufgetragen ist die mittlere Investition der in jeweils einer Gruppe spielenden Personen, nach rechts die Gruppenzentralität, d.h. die Anzahl der Gruppen, mit denen die betreffende Gruppe gemeinsame Mitspieler hat. Dargestellt sind die Ergebnisse für eine große Zahl verschiedener Netzwerkstrukturen, einschließlich der drei in Abb. 1 gezeigten, für zwei Werte des „Kognitionsparameters“ K. Wir erkennen nicht nur, dass die Bereitschaft zur Investition in Gemeingüter systematisch zunimmt, je stärker eine Gruppe vernetzt ist. Wir sehen auch, dass die zugehörigen Werte jeweils alle auf einer gemeinsamen Kurve liegen, unabhängig von der Struktur des Netzwerks. Hier scheint also eine allgemeine Gesetzmäßigkeit zugrunde zu liegen, deren Aufdeckung von größtem Interesse wäre.
Angewandt auf menschliche Gesellschaften würde dies bedeuten, dass es für die Beiträge zum Gemeinwohl ganz allgemein förderlich ist, wenn Menschen in möglichst vielen gemeinsamen Aktivitäten engagiert sind. Für „echte“ Menschen mag das nicht überraschend sein, aber es ist bemerkenswert (und vielversprechend für das Modell), dass dieses Ergebnis bei einem so einfachen Agentenmodell auftritt.
Literaturhinweise
DOI: 10.1371/journal.pone.0247445
DOI: 10.1016/j.tra.2018.10.028
DOI: 10.1142/S0219525922500072
DOI: 10.1103/PhysRevE.105.024114