Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
Sprache und Handlung sind zweierlei
Laut-, Gebärden- oder Schriftsprache: Sprache ist das wichtigste Kommunikationsmittel des Menschen. Im Alltag bilden Menschen täglich Tausende verschiedene sprachliche Äußerungen, indem sie einzelne Wörter aus ihrem mentalen Lexikon zu Aussagen, Fragen und Bitten von unterschiedlicher Länge und Komplexität kombinieren. Die Vorstellung, dass diese kreative Leistung das Ergebnis einer allgemeinen Fähigkeit ist, sich alle Äußerungen, die man schon einmal gehört oder selbst produziert hat, zu merken und bei Bedarf erneut wiederzugeben, ist wenig plausibel. Denn dies würde zu dem paradoxen Umstand führen, dass Menschen nicht in der Lage wären, Äußerungen, die sie noch nie vorher gehört haben, zu verstehen. Eher zutreffend ist wohl, dass Menschen die große Menge von Wörtern in ihrem mentalen Lexikon in abstrakte grammatikalische Kategorien wie zum Beispiel Nomen, Verben, Adjektive und dergleichen einteilen, um sie auf der Grundlage grammatikalischer Regeln zu Sätzen zu kombinieren. Somit handelt es sich bei der Sprachfähigkeit um einen Mechanismus, der mithilfe abstrakter Informationen und weniger grammatikalischer Regeln alle denkbaren Aussagen, Fragen oder Bitten generieren kann.
Wenn Menschen mit ihrer Umwelt interagieren, müssen sie fast ständig mehr oder weniger komplexe Handlungen verrichten: ein Auto fahren, ein Instrument spielen, zum Plattenladen radeln. Aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht kann man komplexe Handlungen als Abfolgen von einfacheren motorischen Plänen beschreiben, die wir im Laufe der Zeit in komplexere motorische Pläne einbetten. Das Starten eines Autos etwa ist eine komplexe Handlungsabfolge, die eine Reihe von einfacheren Handlungen wie das Suchen des Schlüssels in der Tasche, das Öffnen der Vordertür, das Setzen ins Auto, das Anschnallen usw. umfasst. Komplexe Handlungen lassen sich also in einfachere Handlungen unterteilen, was als Analogie zur Unterteilung eines sprachlichen Ausdrucks in einzelne Wörter gesehen werden kann.
Eine gemeinsame kognitive Grundlage von Sprache und Handlung?
Aufgrund dieser Ähnlichkeit werden Sprach- und Handlungsverarbeitung schon lange von Forschern aus verschiedenen Blickwinkeln miteinander in Verbindung gebracht. So besagt etwa die „Zuerst kam die Gestik“-Hypothese zur Evolution der Sprachfähigkeit, dass die Sprache des modernen Menschen aus einer elementaren Form der Kommunikation hervorgegangen sein könnte, die auf Hand- und Armgesten beruhte. Gebärdensprachen mit ihrem konventionalisierten Lexikon und der komplexen Grammatik können so als eine Form der Anpassung der manuellen Kommunikation an neue sprachliche Zwecke gesehen werden. Auf hirnphysiologischer Ebene wurde diese Verbindung vor mehr als 150 Jahren erstmals mit der Hypothese hergestellt, dass eine Schädigung des sogenannten Broca-Areals im unteren Teil des linken Frontallappens, zum Beispiel infolge eines Schlaganfalls, die motorischen Aspekte der Sprachproduktion beeinträchtigt. Zuletzt stellte eine einflussreiche Theorie in den Kognitionswissenschaften, die sogenannte Verkörperung (engl.: „embodied cognition“), die Hypothese auf, dass die Sprachverarbeitung hauptsächlich durch mentale Simulation von Handlungsabläufen in den motorischen Regionen der Hirnrinde erfolgen könnte.
Sprache ist mehr als eine Aneinanderreihung von Wörtern
Sowohl unser Team am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften als auch Kollegen aus anderen Instituten haben in den letzten Jahren diese Annahme aus formalen und auch aus hirnphysiologischen Gründen infrage gestellt. Auf der Ebene von rein formaler Analyse konnten wir zeigen, dass die Art und Weise, wie simple Handlungen zu komplexen Handlungsabfolgen zusammengefügt werden, nicht denselben Prinzipien folgt, die der Kombination von Wörtern zu Sätzen in der Sprache zugrunde liegen. Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, dass die Interpretation eines sprachlichen Ausdrucks nicht davon abhängt, wie die Wörter zeitlich aneinandergereiht sind, sondern wie sie nach abstrakten Regeln der Grammatik der jeweils verwendeten Sprache miteinander kombiniert werden. So ist der Satz „Der Mann sah die Frau mit dem Fernglas“ mehrdeutig: Seine Interpretation hängt davon ab, wie die Wörter grammatikalisch kombiniert werden (einmal hat der Mann, einmal die Frau das Fernglas), obwohl die Wortfolge dieselbe ist. Diese Art von Zweideutigkeit gibt es bei Handlungen nicht. Komplexe Handlungen beruhen folglich, anders als Sprache, auf den zeitlichen Abfolgen der einzelnen simpleren Handlungen, die durch logische oder physikalische Eigenschaften kausal verbunden sind. Diese Beobachtungen bestätigen sich auch auf neuronaler Ebene.
Sprachliches Gehirn, motorisches Gehirn
Für die Sprachverarbeitung wurde auf neurowissenschaftlicher Ebene gezeigt, dass sowohl Satzproduktion als auch -verständnis denselben Teil des Broca-Areals in der linken Hirnhälfte aktivieren. Interessanterweise konnten wir diese Ergebnisse, die auf Studien mit Laut- und Schriftsprache basieren, auch in einer Meta-Analyse zur Verarbeitung von Gebärdensprachen bestätigen: Obwohl Letztere völlig anders artikuliert und visuell wahrgenommen werden, aktivieren Gehörlose bei der Verarbeitung von Gebärdensprache ebenso Teile des Broca-Areals, die bei der Verarbeitung von Laut- und Schriftsprache, nicht aber bei der Verarbeitung von Handlungen eine Rolle spielen.
Für Handlungsverarbeitung konnten wir in einer weiteren Meta-Analyse zeigen, dass sich die Hirnaktivität bei der Verarbeitung von komplexen Handlungen abhängig davon, ob Handlungen geplant, ausgeführt oder nur beobachtet werden, unterscheidet. Außerdem konnten wir zeigen, dass die Handlungen, die eine aktive mentale Repräsentation erfordern (Ausführung, Nachahmung und Vorstellung), selektiv neuronale Populationen im hinteren Broca-Areal aktivieren. Dieses Aktivierungsmuster unterscheidet sich jedoch topografisch von den neuronalen Populationen, die im Broca-Areal für Sprache zuständig sind, und bildet darüber hinaus ein funktionelles Netzwerk mit Teilen des Gehirns, die nicht unmittelbar an der Sprachverarbeitung beteiligt sind (siehe Abbildung 1).
Die mentalen Repräsentationen von Sätzen und Handlungsabfolgen unterscheiden sich also grundlegend voneinander und beruhen auf zwei unterschiedlichen formalen und neuroanatomischen Systemen.