Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern

Was ist eigentlich „Inflation“? 

What Do We Mean by „Inflation”?

Autoren
Martin F. Hellwig
Abteilungen

Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Bonn

Zusammenfassung
Der Aufsatz kritisiert die Vorstellung, dass das Wort „Inflation“ ein einheitliches, der theoretischen Analyse zugängliches Phänomen bezeichnet. Preisänderungen nach einmaligen Änderungen der zugrunde liegenden ökonomischen Daten und Inflationsprozesse mit Eigendynamik aufgrund von Rückkopplungen zwischen Marktprozessen einerseits sowie Geld- und Fiskalpolitik andererseits sind zwei arg verschiedene Dinge. Die inflationären Entwicklungen seit Anfang 2021 beruhen auf Angebotseffekten. Die Aufgabe für die Politik besteht darin, das Entstehen einer selbsttragenden Inflationsdynamik zu verhindern.
Summary
The essay criticizes the idea that the word “inflation” refers to a single phenomenon that is accessible to theorizing. It stresses the need to distinguish between price adjustments induced by one-time changes in underlying economic data and inflation processes based on feedback mechanisms between market developments and public policy, fiscal and monetary. Developments in 2021 and 2022 reflect supply side effects. The policy challenge is to avoid generating a self-sustaining inflationary dynamic.

Ist „Inflation“ ein theoretisierbarer Begriff?

Die große Inflation von 1923 hat die Geldvermögen in Deutschland zerstört! Die aktuelle Inflation ist von Anfang 2021 bis Ende 2022 von null auf über 10 Prozent pro Jahr gestiegen! Dieser Sprachgebrauch suggeriert, dass das Wort „Inflation“ beide Male dasselbe meint. Trifft das wirklich zu?

Die Bezeichnung „die große Inflation von 1923“ bezieht sich auf einen mehrjährigen Prozess. Nachdem das Deutsche Reich 1914 beschlossen hatte, den Krieg nicht durch Steuern zu finanzieren, entwickelten Staatsverschuldung, Geldvermehrung und Inflation eine Eigendynamik, die erst mit der Einführung der Rentenmark gestoppt wurde.

Für die Zeit seit Anfang 2021 dagegen haben wir eine Folge von monatlichen Beobachtungen, deren Dynamik erst noch zu erschließen ist. Die Preissteigerungen wurden durch die Verknappung von Schiffstransporten aus Fernost sowie von Energie und von Getreide angestoßen, Ersteres infolge der Coronapandemie, Letzteres im Zuge des Kriegs in der Ukraine.  (Man könnte auch vermuten, dass die Leute nach Aufhebung der Pandemieeinschränkungen versuchten, versäumten Konsum nachzuholen. Jedoch scheinen Pandemie und Krieg das Vorsichtsmotiv für ein Halten liquider Mittel bestärkt zu haben.)

Preistheorie versus Inflationstheorie

In den Wirtschaftswissenschaften haben wir keine allgemeine Theorie der Inflationsrate, sondern nur eine Theorie der Preise. Über die Dynamik der Preisveränderungen wissen wir wenig. Preisänderungsraten sind im Zeitverlauf nicht konstant und es gibt zu wenig Struktur, um darüber zu theoretisieren. 

Betrachten wir den Markt für ein einzelnes Gut. Unterstellen wir, dass die Produktionsbedingungen für dieses Gut sich dauerhaft verschlechtern. Sofern sich sonst nichts ändert, wird der Preis des Gutes auf ein höheres Niveau ansteigen und die gehandelte Menge sinken. Erfolgt die Anpassung sofort, dann ist die Preisanpassungsgeschwindigkeit für einen „kurzen“ Moment „unendlich“ groß und danach null. Geht die Anpassung nicht so schnell, so ist die Preisanpassungsgeschwindigkeit für eine gewisse Zeit positiv; sie ist aber nicht konstant, sondern nimmt mit der Zeit ab. Ist das neue Gleichgewicht einmal erreicht, so steigt der Preis nicht mehr weiter. Für eine Theorie der Preisanpassungsgeschwindigkeit gibt es keine feste Grundlage.

Die Inflation der Jahre 2021 und 2022 ist durch solche Angebotsverschlechterungen angestoßen worden. Im Zeitverlauf beobachten wir die Weitergabe der Anstoßeffekte auf die Erzeugerpreise und die Verbraucherpreise. Relativ zu den Anstoßeffekten sind die Erhöhungen der Verbraucherpreise bisher sogar noch niedrig gewesen.

Sofern es keine weiteren, neuen Inflationsanstöße gibt, ist zu erwarten, dass diese Preissteigerungen bald wieder abflauen werden. Der Verlauf entspräche dann einer „temporären Inflation“, wie 2021 regelmäßig behauptet wurde. Jedoch ist „temporär“ nicht dasselbe wie „unwichtig“. In den Diskussionen im Jahr 2021 wurde das Wort „temporär“ oft als Beschwichtigung verwandt. Die Besitzer von Geldvermögen und die Bezieher von Geldeinkommen durch die Preissteigerungen sind aber ärmer geworden. Ein Abflauen der Preissteigerungen kehrt diesen Effekt nicht um.

„Temporäre Inflation“ und das Mandat der Zentralbank

Das Ziel der Preisstabilität, dem die Europäische Zentralbank (EZB) durch ihr Mandat verpflichtet ist, wurde 2022 deutlich verfehlt. Daraus kann man ihr kaum einen Vorwurf machen, schließlich verfügt sie nicht über eigene Containerschiffe oder Gasvorkommen, die die Anstoßeffekte hätten neutralisieren können. Allerdings ist zu fragen, wie sie mit dieser Zielverfehlung umgehen sollte. Interpretiert man die Verpflichtung der EZB auf das Ziel der Preisstabilität als Mandat zum Schutz der Sparer, so wird man vielleicht verlangen, dass die EZB die Zielverfehlung rückgängig macht und durch geeignete Maßnahmen dafür sorgt, dass die maßgeblichen Preisindizes wieder zum Niveau von Anfang 2021 zurückkehren. Sie könnte dies tun, indem sie durch eine deflationäre Politik dafür sorgt, dass die Preise anderer Güter und Dienstleistungen sinken. Jedoch verstieße eine derartige Deflation mit umgekehrtem Vorzeichen ebenfalls gegen das Mandat der Preisstabilität. Das Mandat zielt nicht auf Preisstabilität auf dem jeweils aktuellen Niveau, nicht auf Preisstabilität auf dem Niveau von 2020. In dieser Interpretation dient das Mandat nicht dem Schutz der Sparer, sondern dem Schutz der Schuldverträge vor den Risiken einer Änderung der Kaufkraft der Währung.

Gefahr einer Eigendynamik aufgrund von Fiskal- und Geldpolitik

Es gilt allerdings zu verhindern, dass die Preissteigerungen eine Eigendynamik entwickeln, die über die Verarbeitung der Anstoßeffekte hinausgeht. Eine solche Eigendynamik war nach 1973 in Ländern zu beobachten, in denen Regierungen und Zentralbanken versuchten, durch expansive Maßnahmen die Wirkungen der Ölpreissteigerungen auf Realeinkommen und Beschäftigung zu neutralisieren. Diese Versuche waren letztlich erfolglos, aber die Rückkopplung des Marktgeschehens mit der staatlichen Politik begründete eine Eigendynamik des Inflationsprozesses. Im Unterschied dazu war die Bundesbank damals sehr restriktiv. Die Rezession ab 1974 war in Deutschland deutlich schärfer als in anderen Ländern, aber danach war die Inflationsdynamik gebrochen. In anderen Ländern wurde die Inflation erst Anfang der 1980er-Jahre gestoppt, nach einem abrupten Politikwechsel.

Aktuelle Diskussionen um die Dynamik der Inflation konzentrieren sich auf Inflationserwartungen und Lohnabschlüsse. Man sollte aber nicht übersehen, dass die Inflationsdynamik in den 1970er-Jahren nicht nur auf Inflationserwartungen und Lohnsteigerungen beruhte, sondern auch auf Geldpolitik und Fiskalpolitik. Eine Fiskalpolitik, die die Realeinkommenseffekte der Gaspreissteigerungen weitgehend kompensieren will, birgt die Gefahr von Rückkopplungseffekten, die die Gaspreise weiter erhöhen und das sonst zu erwartende Abflauen der Preissteigerungen verhindern. Eine Geldpolitik, die der Fiskalpolitik die Gewähr gibt, dass Staatsschulden billig aufgenommen werden können, trägt ebenfalls zu diesen Rückkopplungseffekten bei.

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