Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
Jenseits von Staat oder Markt: Transnationale Governance nach der Finanzkrise
Grenzüberschreitende Institutionenbildung (PD Dr. Sigrid Quack)
MPI für Gesellschaftsforschung, Köln
Viele transnationale Governance-Arrangements der letzten Jahre reagieren auf die sozialen und ökologischen Herausforderungen der Globalisierung nach Prinzipien freiwilliger regulativer Standardsetzung und -implementation, wie sie in internationalen Finanzmärkten vor der Krise üblich waren. So hat es zumindest den Anschein. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Gegenüberstellung von privater und öffentlicher Regulierung zu kurz greift, weil sie die politische Dimension privater Regelsetzung ignoriert und öffentlichen Einfluss ausschließlich als Handeln staatlicher Akteure definiert. Die Forschungsgruppe Grenzüberschreitende Institutionenbildung am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung hat Formen politischer Regelung und gesellschaftlicher Selbststeuerung in transnationalen Politikfeldern verglichen. Die Ergebnisse legen nahe, dass Entscheidungen transparenter und zurechenbarer werden und darüber hinaus gesellschaftlich unerwünschte Effekte besser vermieden werden können, wenn die Governance-Verfahren für eine möglichst breite Beteiligung privater, staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure geöffnet werden.
Die Globalisierung von Märkten und Unternehmen führt dazu, dass sich neben den weiter bestehenden nationalen Institutionen grenzüberschreitende Institutionen bilden. Deshalb ist es aus wirtschaftssoziologischer Sicht sinnvoller, von transnationaler als von globaler Governance zu sprechen. Die in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Formen reichen von der Selbstregulierung durch Industrie und Unternehmen über Standardsetzung bis hin zur Regulierung durch zwischenstaatliche Verträge und internationale Organisationen. Während in einigen transnationalen Politikfeldern Regierungen rechtlich bindende Abkommen abgeschlossen haben, entwickelten sich in anderen Politikbereichen freiwillige Formen der Koordination (soft law) und regulative Standards, die im nationalstaatlichen Kontext typischerweise in den Aufgabenbereich der Regierung oder staatlicher Aufsichtsgremien fallen.
Staatlich verordnet oder freiwillig: Formen transnationaler Regulierung
Ein Beispiel für zwischenstaatliche Regulierung ist die Koordination der internationalen Handelspolitik im Rahmen der 153 Mitgliedstaaten umfassenden Welthandelsorganisation (WTO), deren Verträge ebenso wie die Urteile ihres Streitschlichtungsgremiums rechtlich bindend sind. Der zwischenstaatliche Charakter bietet aber keineswegs eine Garantie dafür, dass diese „öffentliche“ Variante transnationaler Governance schädliche gesellschaftliche oder ökologische Effekte der Handelsliberalisierung ausreichend berücksichtigt. So kritisieren Nichtregierungsorganisationen (NGO), kirchliche Gruppen, Gewerkschaften und auch einige Wirtschaftswissenschaftler die Verhandlungspraxis „hinter verschlossenen Türen“: Sie verschleiere, dass transnationale Konzerne und Wirtschaftsverbände Einfluss nehmen, das WTO-Recht nehme nicht genügend Rücksicht auf den Umweltschutz und die wirtschaftliche Entwicklung in Dritte-Welt-Ländern werde behindert.
Zu den bekanntesten Beispielen für Governance mittels freiwilliger Regulierung zählen Zertifizierungsprogramme, die darauf abzielen, die Arbeits-, Sicherheits- und Umweltstandards in globalen Produktionsketten zu verbessern. Viele dieser Standards entstehen unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Gruppen oder NGO. Hinzu kommt Selbstregulierung durch Unternehmen und Verbände, zum Beispiel über Produktstandards oder Modellverträge, die Koordinationsprobleme innerhalb von Märkten lösen sollen. Gemeinsames Kennzeichen dieser Standards ist, dass sie, obwohl rechtlich nicht bindend, durchaus von den Adressaten befolgt werden. Private Standardsetzung ist demnach weniger privat als sie scheint: Zum einen wirken in vielen Fällen zivilgesellschaftliche Organisationen mit dem Anspruch, öffentliche Interessen zu vertreten, mit, zum anderen kommt sie oft erst durch den Verzicht nationaler Regierungen oder internationaler Organisationen auf eigene Regulierung zustande.
Dieses Delegieren von Regulierungsaufgaben an die Wirtschaft oder an spezialisierte Aufsichtsbehörden ist auch im Kontext der Liberalisierungspolitiken der letzten Jahrzehnte zu sehen: Ausschlaggebend war häufig die Erwartung, dass Experten aus Wirtschaft und Verwaltung besser zur Bewältigung tatsächlicher oder vermeintlicher Komplexität transnationaler Wirtschaftsbeziehungen in der Lage sind. Solange diese Regeln in der Praxis funktionierten, erschien eine solche Arbeitsteilung gegenüber der Öffentlichkeit legitimierbar. Die Finanzkrise hat allerdings auch das Vertrauen in dieses Regulierungsmodell erschüttert.
Finanzmärkte: Scheitern der politisch gewollten Selbstregulierung
Dass in der vor der Krise existierenden Finanzmarktarchitektur nicht nur der Mangel an, sondern auch die Form von Regulierung problematisch war, lässt sich an zwei einfachen Beispielen demonstrieren: Erstens waren politische Entscheidungen ausschlaggebend dafür, dass der wachsende Markt für Kreditderivate zum Handel von Ausfallrisiken von Krediten und Anleihen (Credit Swaps) vollständig der Selbstregulierung durch die International Credit and Derivative Swaps Association überlassen wurde. So waren es der Financial Service Act, den die britische Regierung 1986 verabschiedete, und der im Jahre 2000 vom amerikanischen Kongress beschlossene Commodities Futures Modernization Act, die die außerbörslich gehandelten OTC-Derivate (vom englischen „over the counter“) zu respektablen und handelbaren Finanzprodukten machten und binnen weniger Jahre zu einer Vervielfachung des Marktvolumens führten. Kritische Positionen wie jene von Brooksley Born, die als Vorsitzende der amerikanischen Aufsichtsbehörde für Waren- und Termingeschäfte Ende der 1990er-Jahre die Zuständigkeit der Börsenaufsicht anmahnte, wurden von damals führenden Politikern und Vertretern anderer Aufsichtsbehörden als unnötig und schädlich für die Entwicklung der Finanzmärkte abgelehnt.
Zweitens wurde die Entwicklung von Standards für die internationale Bankenaufsicht an ein öffentlich-privates Expertengremium ohne öffentliche Rechenschaftslegung delegiert: Der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht war 1974 als Antwort auf den Zusammenbruch der Kölner Herstatt-Bank entstanden. Sowohl die Grundsätze des Jahres 1975 für die Beaufsichtigung ausländischer Bankniederlassungen als auch die 1988 verabschiedete erste Eigenkapitalvereinbarung (Basel I) und ihre Überarbeitungen Ende der 1990er-Jahre (Basel II) waren rechtlich nicht bindende Empfehlungen. Der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht besteht aus Zentralbankpräsidenten und Führungskräften ausgewählter internationaler Banken. Neuere Studien weisen nun auf eine wachsende kognitive Engführung dieses Gremiums hin: Große internationale Banken wurden zu Selbstaufsehern erklärt. Fortan schätzten sie ihre Risikoposition in Märkten mit eigenen Modellen und konnten ihr erforderliches Mindestkapital entsprechend festsetzen. Letztlich wurden die Basel-II-Standards im Jahr 2007 durch eine EU-Richtlinie für alle Mitgliedstaaten verbindlich gemacht. Auch in diesem Fall blieben Kritiker, die ebenso wie die deutschen Verbände der Sparkassen und Genossenschaftsbanken Skepsis gegenüber diesem Selbstaufsichtsmodell äußerten, ungehört.
Vom Groupthink zu demokratischer Öffnung: Risiken und Möglichkeiten gesellschaftlicher Regulierung
Die Entscheidungen der mit internationaler Finanzmarktregulierung befassten Politiker sowie der privaten und zwischenstaatlichen Gremien, an die Erstere Regelsetzung und Aufsicht delegierten, weisen viele Merkmale dessen auf, was in den Sozialwissenschaften als Gruppendenken (Groupthink) bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um einen Prozess, bei dem eine Gruppe kompetenter Personen realitätsferne oder desaströse Entscheidungen trifft, weil das Streben nach Einmütigkeit innerhalb der Gruppe zu einer systematischen Ausblendung von Alternativen oder Risiken führt. Aus der Organisationsforschung ist bekannt, dass Groupthink in Kommissionen und großen Organisationen durch eine hohe Gruppenkohäsion, die Illusion der Unverwundbarkeit, fehlende Routinen zur systematischen Abwägung von Handlungsalternativen und eine starke Abschottung nach außen gefördert wird. Folge des Gruppendenkens ist eine äußerst ausgeprägte Form selektiver Wahrnehmung.
Interessanterweise decken sich viele der in der Organisationsforschung gegen Gruppendenken vorgeschlagenen Maßnahmen mit Forderungen, die in der Politikwissenschaft im Hinblick auf eine Demokratisierung transnationaler Governance erhoben werden: Eine hohe Interessen- und Erfahrungspluralität, systematische Evaluierung von Handlungsalternativen innerhalb von Arbeitsgruppen und Entscheidungsgremien sowie mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit gelten als Faktoren, die dem Gruppendenken entgegenwirken.
Ein Vergleich aktueller Entwicklungen im Finanzsektor mit Ergebnissen laufender Projektarbeiten der Forschungsgruppe Grenzüberschreitende Institutionenbildung zu anderen Bereichen transnationaler Governance verdeutlicht, dass es bei einer derartigen Demokratisierung nicht nur um die sicherlich auch notwendige Ausweitung staatlichen Einflusses gehen kann. In den untersuchten transnationalen Politikfeldern, zu denen Umwelt- und Arbeitsstandards, Urheberrechtslizenzen und Mikrofinanz zählen, formieren sich handlungsfähige kollektive Akteure wie soziale Bewegungen oder Bündnisse politischer Akteure häufig erst im Verlauf eines Prozesses, in dem ein als technokratisches Problem angesehener Sachverhalt politisiert wird. Sie hinterfragen dabei nicht nur die Mittel für gegebene Zielsetzungen, sondern auch die Ziele selbst. Insofern bilden sie einerseits die Voraussetzung für eine stakeholder-orientierte transnationale Governance, andererseits sind sie die treibenden Kräfte, die auf eine breitere Partizipation drängen.
Die Ergebnisse laufender Forschungsprojekte stellen eine Reihe von Argumenten infrage, die üblicherweise gegen eine partizipatorisch-demokratische Öffnung transnationaler Governance vorgebracht werden. Dazu zählt der Einwand, dass die Sachverhalte transnationaler Governance, insbesondere im Finanzsektor, zu komplex seien, um von einem breiten Kreis von Beteiligten verstanden zu werden. Die Analyse von Interviews und Dokumenten sowie teilnehmende Beobachtungen bei Auseinandersetzungen um Urheberrechtsfragen und Arbeits- und Umweltstandards zeigen jedoch, dass es Zusammenschlüssen aus Wissenschaftlern, zivilgesellschaftlichen und privaten Akteuren gelang, Gegenexpertise zu vorherrschenden Interessenkoalitionen aufzubauen. Diese Gegenexpertise hinterfragt die als selbstverständlich angesehenen Ziele wie eine Ausweitung des Urheberrechts oder das Primat der Profitmaximierung bei einer Produktionsverlagerung ins Ausland. Im Bereich des Urheberrechts ist es diesen Akteuren darüber hinaus gelungen, kollaborative Formen der Produktion von digitalen Inhalten – wenn auch zunächst als Marktnische – zu etablieren und konkurrierende Regulierungsangebote für Werkschaffende in Form von sogenannten Copyleft-Lizenzen zu entwickeln (Abb. 1).
Weiterhin wird häufig zu bedenken gegeben, dass es an einer transnationalen Öffentlichkeit mangele, die durch Medien und Diskurs eine Kontrollfunktion ausüben könne. Hier sind die transnationalen Anti-Sweatshop-Kampagnen instruktiv. Sie belegen, dass die beteiligten Akteure und Bewegungen in Industrie- und Entwicklungsländern zwar weiterhin lokal und national verankert sind und ihre Aktionen vorrangig auf solche Öffentlichkeiten ausrichten. Indem sie ihre Kampagnen gegen transnationale Unternehmen und internationale Organisationen richten und sich mit Bewegungen Gleichgesinnter in anderen Ländern zu grenzüberschreitenden Kampagnen zusammenschließen, tragen sie jedoch zu einer transnationalen Vernetzung der Debatten in verschiedenen Öffentlichkeiten bei.
Im Finanzsektor fällt nun im Vergleich zu den oben angeführten Beispielen auf, dass die sozialen Bewegungen, NGO und Konsumentenbewegungen, denen man in anderen von der Forschungsgruppe untersuchten transnationalen Governance-Feldern begegnet, bislang nur in schwachen Ansätzen zu erkennen sind. Anfänge der Mobilisierung sind allerdings aufseiten von Konsumentenverbänden und NGO auszumachen – und in einer kritischen akademischen Debatte. In ihrer Rolle als „Public Intellectuals“ können Sozialwissenschaftler dazu beitragen, die Ziele und Dynamik aufkeimender Gegenbewegungen für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar zu machen. So untersucht ein neues Kooperationsprojekt der Forschungsgruppe Grenzüberschreitende Institutionenbildung mit Paul Lagneau-Ymonet von der Universität Paris-Dauphine zur Reform der Rechnungslegungsstandards, ob und wie eine Öffnung von bislang geschlossen-expertenzentrierten Beteiligungs- und Entscheidungsverfahren hin zu öffentlich-partizipativen Verfahren möglich ist – und ob sie Versprechungen für einen effizienteren Umgang mit systemischen Risiken erfüllen kann.