Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Die Geschichte der Gefühle
The History of Emotions
Geschichte der Gefühle (Prof. Dr. Ute Frevert)
MPI für Bildungsforschung, Berlin
Bildung und Gefühle
Was verbindet Gefühle mit Bildung? Das kommt darauf an, was man unter Bildung versteht. Wenn man „Bildung“ eng definiert, denkt man an Wissensvermittlung und schulische Institutionen, an PISA und TIMSS. Wenn man Bildung weit definiert, kommen einem Humboldt und Herder in den Sinn, man erinnert sich an die allgemeine Menschenbildung, an das Ideal der Selbstvervollkommnung, an Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, an seine Lobpreisung des Theaters als einer moralischen Anstalt, die „die Bildung des Verstandes und des Herzens mit der edelsten Unterhaltung“ vereinige. In beiden Definitionen finden Gefühle ihren Platz. Im Prozess der Wissensvermittlung spielen sie eine zentrale Rolle. Gefühle, so die pädagogische Theorie und Praxis, können Lernen sowohl motivieren als auch blockieren. Zugleich gelten sie als Lernziel – wenn etwa Empathie, Solidaritätsfähigkeit und dergleichen als Erziehungsgegenstand ausgewiesen werden.
Noch deutlicher wird die Beziehung von Bildung und Gefühl, wenn man die weitere Bedeutung von Bildung zugrunde legt. Wenn Schiller – und nicht nur er – von der Bildung des Verstandes und des Herzens spricht, stellt er sich in eine lange Tradition von Philosophen, die den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist sehen. Gefühle gelten spätestens seit Aristoteles als bestimmendes Element des Mensch-Seins. Wo auch immer sie angesiedelt sind – im Herzen, in der Brust oder im Gehirn –, sie gehören zur menschlichen Grundausstattung.
Wenn man Mensch-Sein und Gefühle-Haben zusammendenkt, drängen sich zwei Denkrichtungen auf: eine, die davon ausgeht, dass Gefühle dem Menschen genetisch einprogrammiert sind, und eine andere Richtung, die Gefühle als Gegenstand und Resultat von Bildungs- und Entwicklungsprozessen betrachtet. Zu denjenigen, die Gefühle dynamisch denken, gehören Evolutionsbiologen, die Angst als Kondensat menschheitsgeschichtlicher Bedrohungs- und Selbstschutzerfahrungen deuten. Dazu gehören aber auch Philosophen und Ästhetiker wie Schiller. Wenn Schiller von der „Bildung des Herzens“ spricht, hat er einen individuellen und sozialen Vorgang vor Augen, in dem Gefühle aktiv erlernt, angeeignet und kultiviert werden. An diesem Prozess sind viele Personen, Institutionen, Medien beteiligt – nicht nur das Theater, das bei Schiller im Mittelpunkt steht, sondern auch die Familie, die Schule, die Arbeitswelt, Kirche und Religion, Staat und Recht. All diese Institutionen beeinflussen und prägen die Gefühle, die der einzelne Mensch im Laufe seines Lebens, im Laufe seiner Entwicklung erfährt, erwirbt und entwickelt.
Gefühle haben eine Geschichte
Dies führt zur Frage nach der Geschichte von Gefühlen. Wenn man Gefühlen eine Dynamik und Entwicklung zugesteht, dann liegt es nahe, sie als geschichtliche Phänomene anzusehen. Die Entwicklungsannahme bezieht sich ja nicht nur auf die Spanne eines einzelnen Menschenlebens, auf das, was zwischen Geburt und Tod passiert – und was Psychologen unter das Konzept des Lebenszyklus summieren. Die Annahme, dass sich Gefühle entwickeln und gebildet werden, bezieht sich auch und vor allem auf die Entfaltung der Menschen in Zeit und Raum, auf ihre Anpassung an neue Gegebenheiten und Herausforderungen, auf generationenübergreifende Lernprozesse und Verhaltensänderungen. Hier lautet die Kardinalfrage – zugespitzt – so: Kann man davon ausgehen, dass Gefühle eine Brücke bauen über Zeit und Raum hinweg? Oder soll man eher dafür plädieren, Gefühle selber als veränderbar, als historisch variabel anzusehen?
Schon die Antike hat uns ausreichend Quellen beschert, an die wir unsere Fragen herantragen können: Texte, Bilder, Bauwerke. Diese Quellen sprudeln lebhafter und ergiebiger, je mehr wir uns der Neuzeit nähern. Und sie lassen erahnen, dass wir nicht so einfach auf unseren Gefühlen in vergangene Gesellschaften hineinspazieren können. Wovor wir heute Angst haben, war Menschen des 18. Jahrhunderts unvorstellbar, und umgekehrt. Fürchtete man sich damals vor Hexen und dem Scheintod, ängstigen sich die Menschen heute vor Klimawandel und Atomtod. Nicht nur der Gegenstand wechselte, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen ihren Empfindungen Ausdruck verleihen: durch Gesten, Sprache, Lieder, kollektives Handeln, Rituale, Demonstrationen.
Diese Ausdrucksformen wiederum wirkten sich auf die Empfindung selber aus, vornehmlich auf ihre Intensität und Dauer. Ob und in welchem Medium jemand Angst bekundet, ob er starke oder schwache Worte benutzt, dramatische oder undramatische Metaphern, das beeinflusst das Angstgefühl, verstärkt oder vermindert, verlängert oder verkürzt es. Auch wem gegenüber man seine Angst ausdrückt, spielt eine Rolle: Welche Kommunikation schließt sich an, was möchte man erreichen, welche Reaktion will man hervorrufen? Wer kann den Absender und die Art, wie er sich ausdrückt, verstehen? Gerade über Gefühle und deren Mitteilung treten Menschen miteinander in Kontakt, nehmen Beziehungen auf oder brechen sie ab. Das setzt voraus, dass Gefühle auf eine Weise kommuniziert werden, die beim Gegenüber ankommt. Der Ausdruck von Gefühlen folgt also kommunikativen Regeln, und diese Regeln wiederum haben Rückwirkungen auf die Empfindungen selber.
Zugleich sind die Regeln weder universell noch überzeitlich gültig. Sie unterscheiden sich von Epoche zu Epoche, von Land zu Land. Vor etwa 200, 250 Jahren las man, lasen die Gebildeten mit Vorliebe sentimentale Romane; Goethes Werther war ein Kassenschlager. Man schwelgte in „Empfindsamkeit“ und pflegte den Kult der Träne. „Das weinende Saeculum“ hat man das 18. Jahrhundert auch genannt. Ein Säkulum später war eine solche Tränenseligkeit undenkbar geworden, vor allem für Männer. Sie wurden jetzt aufgefordert, ihre Gefühle zu kontrollieren, keine Schwäche (sprich: Tränen) zu zeigen, hart, gefasst und rational aufzutreten.
Diese Kultur der Empfindsamkeit war ein europaweites Phänomen – was aber nicht heißt, dass Europa oder der Westen emotionsgeschichtlich eine Einheit bilden. Linguisten machen darauf aufmerksam, dass beispielsweise der Begriff „Happiness“ etwas anderes bedeutet als „Glück“. „I am happy“ oder „I feel happy“ hört man in den USA tagtäglich in allen möglichen und unmöglichen Situationen. Die entsprechende Äußerung fällt in Deutschland, aber auch in Frankreich, Italien oder Spanien sehr viel seltener und selektiver – und zwar nicht deshalb, weil Menschen hier weniger glücklich sind, sondern weil für sie Glück ein stärkeres und damit exklusiveres Gefühl ist. Die emotionale Landschaft, heißt das, ist variantenreich angelegt. Als Kulturlandschaft ist sie zugleich offen für Veränderung, für Wandel und Differenz. Sie ist und hat, mit einem Wort, Geschichte.
Einladung zur Interdisziplinarität
Was Psychologen unter Emotion verstehen, hat sich stark verändert und lässt sich auch heute kaum auf einen Nenner bringen. Schon die Begriffe selber changieren – manche sprechen von Affekt, andere von Gefühl, Emotion oder Empfindung. Damit reproduzieren sie eine Begriffsvielfalt, die historisch angelegt ist und der Zeitgenossen etwa des 18. Jahrhunderts noch Leidenschaft, Passion und Begierde hinzufügen würden. Jeder dieser Begriffe trägt unterschiedliche Bedeutungen und Sinngehalte, die es zu rekonstruieren lohnt. Eine solche historische Semantik der Gefühle ist eines der Forschungsziele des Forschungsbereichs Geschichte der Gefühle – ein übergreifendes Interesse, das die einzelnen Projekte des Bereichs verbindet und das vielleicht auch eine Brücke zur Psychologie schlägt. Die Neurowissenschaften umgarnen seit einigen Jahren die experimentelle Psychologie. Ihr Versprechen, Emotionen in Abhängigkeit von Hirnstrukturen zu untersuchen und zu erklären, hat zweifellos etwas Faszinierendes, aber auch etwas Vordergründiges. Demgegenüber kann die Geschichtswissenschaft Gefühle, Emotionen, Passionen in ihren jeweiligen und historisch wechselnden Erfahrungskontexten aufspüren. Der sprachliche und nichtsprachliche Ausdruck von Emotionen, zum Beispiel in Musik, Bildern, Gesten und Tanz, zeigt eine ungeheure Varianz, sowohl sozial als auch zeitlich und räumlich. Kinder drückten und drücken ihre Gefühle anders als aus Erwachsene, Frauen anders als Männer, Migranten anders als Einheimische. Unterschiedliche Kulturen legen unterschiedliche Regeln des emotionalen Ausdrucks fest. Der Ausdruck aber, davon geht die kulturwissenschaftliche Emotionsforschung aus, prägt die Emotion selber – die ohne Ausdruck möglicherweise gar nicht existiert.
Gefühle machen Geschichte
Gefühle sind geschichtsmächtig, und zwar auf mehrfache Weise. Zum einen machen sie das, was man „große Geschichte“ nennt: Revolutionen zum Beispiel. Sind 1789 oder 1917 – oder auch 1989 – ohne Gefühle überhaupt vorstellbar? Ohne Angst, Empörung, Wut, Enttäuschung, Euphorie? Diese Gefühle waren nicht einfach nur „da“, sondern sie wurden angeheizt, kanalisiert, zurückgedrängt, kollektiv verstärkt. Menschen bestätigten sich in ihren Gefühlen, sprachen einander Gefühle ab, steigerten sich in Gefühle hinein. Politiker spielten auf der Klaviatur von Gefühlen – mal mehr, mal weniger virtuos und erfolgreich. Manche forderten gar eine völlig neue Gefühlskultur – die neue Gesellschaft, hieß es 1789 ebenso wie 1917, brauche neue Menschen mit neuen Gefühlen.
Aber nicht nur totalitäre Regime betreiben Gefühlserziehung und Gefühlsmanipulation. Auch demokratische Systeme unternehmen Anstrengungen, ihre Bürger emotional zu beeinflussen und zu bilden. Schulen vermitteln nicht nur kognitives Wissen, sondern auch Werte und Gefühlshaltungen. Kapitalistische Wirtschaftsordnungen beruhen ebenfalls, das wusste schon der Philosoph und Ökonom Adam Smith, auf einer bestimmten Ökonomie der Gefühle. Auch die Politik ist ohne das „Theater der Emotionen“ nicht vorstellbar – man denke nur an die Vertrauenswerbung politischer Parteien und Persönlichkeiten, an die Rolle von Emotionen in Wahlkämpfen. Geschichtsmächtige Gefühle wie Ehre und Schande, Stolz und Scham haben daher in den Projekten des Forschungsbereichs einen festen Platz. Aber auch Angst, Liebe und Vertrauen – nicht weniger geschichtsmächtig – werden behandelt, in verschiedenen sozialen, zeitlichen und räumlichen Kontexten. Weitere Themen und Projekte werden hinzukommen. Ein Schwerpunkt der Forschungen liegt in Europa und den USA, ein anderer in Indien. Gerade der indische Subkontinent bietet sich für emotionsgeschichtliche Forschungen an, denn er weist neben unterschiedlichen religiösen Kulturen auch eine sehr bewegte politische Geschichte auf. Indem vorkoloniale, koloniale und postkoloniale Phasen fokussiert werden, geraten Kontinuitäten und Diskontinuitäten ebenso in den Blick wie der Einfluss europäischer Herrschaftsträger. Dies eröffnet nicht nur die Möglichkeit, europäische und nichteuropäische Gesellschaften zu vergleichen; es bietet zudem die Chance, Transferprozesse in beiden Richtungen zu untersuchen.