Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
Grundlagen des Vertrauens: Wissenschaftliche Fundierung eines Alltagsproblems
Why do we trust? A theoretical approach to an everyday problem
Soziologie des Marktes (Prof. Dr. Jens Beckert)
MPI für Gesellschaftsforschung, Köln
Wer Geschäfte machen will, muss Risiken eingehen und mögliche Misserfolge und Rückschläge mit einkalkulieren. Doch was bedeutet es, wenn heutzutage vielfach nicht nur von Chancen und Risiken, sondern von „Vertrauen“ als einem wichtigen Faktor in Geschäftsbeziehungen die Rede ist? Wie können zum Beispiel zwischen einem Hersteller und seinem Lieferanten positive Erwartungen entstehen, die über die bloße Annahme der Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen eines für beide Seiten vorteilhaften Geschäfts hinausgehen? Und wie können etwa Manager, die das Geschäft ihrer Unternehmen in China aufbauen wollen, in einem unvertrauten Umfeld und mit fremden Geschäftspartnern vertrauensvolle Beziehungen knüpfen, wenn sie das Investitionsrisiko noch gar nicht einschätzen können und sie sich auch nicht auf alte Loyalitäten und den eigenen guten Ruf verlassen können? Ist es überhaupt zumutbar, dort Vertrauen zu erwarten?
Nicht nur im Geschäftsleben, auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen ist immer wieder und immer häufiger von Vertrauen die Rede. Der Anlass ist oft unerfreulich und es wird ein Vertrauensverlust, zum Beispiel gegenüber der Politik oder den Konzernen, beklagt und nicht selten wird sogar eine Vertrauenskrise beschworen. Dabei drückt Vertrauen doch zunächst einmal positive Erwartungen aus, die trotz der Verwundbarkeit und Ungewissheit gegenüber anderen entstehen. Ohne solche positiven Erwartungen verkümmern und verkommen einzelne Personen, soziale Netzwerke und ganze Gesellschaften. Mit Vertrauen hingegen werden Menschen handlungs-, beziehungs- und gesellschaftsfähig.
Was sagt die Wissenschaft zum Thema Vertrauen?
Vertrauen birgt die alltägliche und bedeutende Herausforderung, trotz der eigenen Verwundbarkeit und Ungewissheit möglichst mit positiven Erwartungen auf andere zuzugehen. Man möchte annehmen, dass die Sozialwissenschaften zu diesem wichtigen Thema etwas Substanzielles zu sagen haben: Wie kann man Vertrauen verstehen? Welche Rolle spielt es? Wie kann man es aufbauen? Jegliche Theorien des menschlichen Zusammenlebens behandeln zumindest implizit diese Fragen und spätestens in den Analysen moderner Gesellschaften ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wird Vertrauen auch explizit thematisiert. In den vergangenen fünfzig Jahren haben sich Forscher in praktisch allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen vermehrt mit Vertrauen auseinandergesetzt und wichtige Erkenntnisse geliefert. In der Summe fällt es heute umso schwerer, diese vielfältigen Erkenntnisse zu einem schlüssigen Bild des derzeitigen Standes der Forschung zusammenzuführen.
Da viele Forscher verständlicherweise das Thema Vertrauen auf ein konkretes Problem bezogen und damit partiell bearbeitet haben, gibt es viele Einzelergebnisse, aber nur wenige Bemühungen, einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu entwickeln und anzuwenden. Es mangelt an einer interdisziplinären Grundlagenforschung zu Vertrauen. Wenn man jedoch annimmt, dass der Begriff „Vertrauen“ im Kern immer das gleiche soziale Problem betrifft, dann wäre solch ein Bezugsrahmen aus theoretischem wie praktischem Interesse heraus mehr als wünschenswert.
Unterschiedliche Vertrauensverständnisse tragen dazu bei, dass Vertreter verschiedener Disziplinen bisweilen aneinander vorbeireden. Entwicklungspsychologen interessieren sich für das Urvertrauen, das der Mensch in der Kindheit entwickelt und das seine Identität und Geborgenheit in der Welt stützt. Sozialpsychologen sehen Vertrauen vor allem als eine Erwartungshaltung in spezifischen Zweierbeziehungen oder als Qualität des Beziehungsgeflechtes in Gruppen und geschlossenen Netzwerken. Soziologen und Politologen hingegen analysieren und ergründen Vertrauen zumeist als generalisierte und aggregierte Zuversicht der Menschen in das Verhalten ihrer Mitmenschen im Allgemeinen sowie in die Verlässlichkeit gesellschaftlicher Institutionen. Philosophen betrachten Vertrauen als Resultat einer für Vertrauensgeber wie Vertrauensnehmer bindenden Moral. Ökonomen wiederum modellieren Vertrauen in der Regel als Verhaltensentscheidung für oder gegen Kooperation in spieltheoretisch beschreibbaren Situationen. Die verschiedenen Vertrauensverständnisse der Disziplinen können sich ergänzen, da ihr gemeinsamer Kern die Erklärung von positiven Erwartungen ist.
Grundlegende Unterschiede in den Grundlagen des Vertrauens
In einem Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung wird an einem konzeptionellen Rahmen zur Analyse von Vertrauen gearbeitet [1]. Dabei wurden drei wesentliche Perspektiven des Vertrauens identifiziert, die bei einer partiellen Betrachtung leicht übersehen werden. Sie rücken jeweils eine andere Grundlage des Vertrauens und damit auch drei verschiedene Ansatzpunkte für den Vertrauensaufbau in den Blick: Vernunft, Routinen und Erfahrungen (Abb. 1).
Die am weitesten verbreitete Perspektive zeigt Vertrauen als eine Frage der Vernunft und stellt den Vertrauensgeber als (begrenzt) rationalen Entscheider in den Vordergrund. Ob vertraut wird oder nicht, hängt ab von Nutzen, Interessen und Präferenzen der beteiligten Akteure und von ihrer Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und vertrauenswürdige Interaktionspartner anhand von bestimmten Kriterien zu erkennen. Zu diesen Kriterien zählen nach einem weit verbreiteten Modell zum Beispiel Kompetenz, Wohlwollen und Integrität des Vertrauensnehmers. In diesem Verständnis ist Vertrauen einer Wette ähnlich, ein kalkuliertes Risiko mit positivem Erwartungswert. Um Vertrauen aufzubauen müsste man entsprechende Anreizstrukturen für die beteiligten Akteure schaffen und außerdem dafür sorgen, dass der Vertrauensgeber verlässliche Signale der Vertrauenswürdigkeit empfängt.
Die zweite Perspektive lenkt das Augenmerk darauf, dass Vertrauen häufig eher routinemäßig geschenkt wird und in vielen Situationen praktisch selbstverständlich ist. Vertrauen basiert hier im weitesten Sinne auf Routinen, und das Vertrauen stiftende an Routinen ist eben, dass man ihnen folgt, ohne sie zu hinterfragen, selbst wenn dies prinzipiell möglich wäre. Man orientiert sich an den legitimen Regeln und Rollen, die alle Beteiligten kennen, handelt angemessen, so wie andere es auch tun würden, und geht insbesondere davon aus, dass sich die Interaktionspartner ebenso „normal“ verhalten werden. Vertrauensaufbau kann in diesem Sinne durch die Etablierung von festen, regelmäßigen Verhaltensmustern gefördert werden.
Aus der dritten Perspektive erscheint Vertrauen als das Ergebnis sogenannter Reflexivität. Der Vertrauende macht Erfahrungen mit anderen und lernt daraus. So kann der Vertrauensaufbau mit kleinen Schritten beginnen, ohne sich dabei bereits auf Vernunft und Routinen stützen zu können. Dieser Lernprozess führt zu Vertrauensbeziehungen, die an bestimmte Interaktionspartner gekoppelt sind, mit denen man gute Erfahrungen gemacht hat. Zugleich ermöglicht er Erfahrungen im Sinne von Verallgemeinerungen, die der Vertrauende in unvertrauten Situationen nutzt, um sich vertraut zu machen und vorläufige Erwartungen zu bilden. Diese Perspektive zeigt, dass Vertrauen dadurch aufgebaut oder erlernt werden kann, dass man Anlässe für neue Erfahrungen schafft und Akteuren Gelegenheiten zur Interaktion gibt.
In der Praxis wirken Vernunft, Routinen und Erfahrungen beim Vertrauensaufbau zusammen. Alle drei stellen wichtige Grundlagen des Vertrauens dar. Je nach Situation können sie einander ergänzen, kompensieren oder relativieren. Im Alltag kann man alle drei Perspektiven für den Aufbau, die Pflege und nicht zuletzt auch die Wiederherstellung der Grundlagen des Vertrauens nutzen.
Der entscheidende Aspekt: Das „Aufheben“ von Ungewissheit
Vertrauen braucht Grundlagen, und es ist daher richtig und wichtig, Vernunft, Routinen und Erfahrungen als Quellen „guter Gründe“ zu identifizieren. Damit ist jedoch das wesentliche Merkmal von Vertrauen noch nicht erfasst: Vertrauen muss stets über gute Gründe hinausgehen und Ungewissheit aufheben. Um überhaupt von Vertrauen sprechen zu können, ist es notwendig, dass dieses Vertrauen zumindest theoretisch auch enttäuscht werden kann, obwohl der Vertrauende genau das nicht erwartet. Er bleibt also verwundbar und hat keine Gewissheit, dass sein Vertrauen honoriert wird, glaubt aber dennoch daran. Erst diese positiven Erwartungen trotz Verwundbarkeit und Ungewissheit können als Vertrauen bezeichnet werden.
Entscheidend ist mithin das Aufheben von Ungewissheit (engl. suspension). Das „Aufheben“ hat in diesem Zusammenhang eine Doppelbedeutung, wie bei Hegel, denn es ist ein Negieren und Aufbewahren zugleich. Der Vertrauende überwindet die Ungewissheit, indem er sie ausblendet oder eine positive Fiktion kreiert. Doch er eliminiert die Ungewissheit nicht, denn die Zweifel bleiben latent. Sie können zurückkehren und die positiven Erwartungen können revidiert werden. In diesem Sinne rückt Vertrauen begrifflich deutlich in die Nähe von Glauben. Es impliziert einen leap of faith, das heißt eine Art Sprung, der eine Grundlage braucht, aber an sich nicht vollständig begründbar ist. Dieser Vertrauenssprung führt erst zu dem eigentlichen Vertrauen. Er ist umso wichtiger, je weniger perfekt die guten Gründe sind, das heißt je weniger Vernunft, Routinen und Erfahrungen dem Vertrauenden zur Erwartungsbildung zur Verfügung stehen. Im Forschungsprojekt des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung wird das Aufheben von Ungewissheit als Kern des Vertrauens hervorgehoben. In der Praxis stellt sich die Frage: Wann höre ich auf, weiter nach guten Gründen zu suchen, und wie kann ich mit meiner verbleibenden Ungewissheit umgehen?
China und Großbritannien: Vertrauen in Geschäftsbeziehungen
In empirischen Studien, die in dieses Forschungsprojekt einfließen, wurden unter anderem Geschäftsbeziehungen in Großbritannien und in China untersucht [2]. So kann auf empirische Erkenntnisse zurückgegriffen werden, welche die oben beschriebenen Konzepte veranschaulichen. Ein interdisziplinärer Bezugsrahmen hilft, die Vertrauensproblematik in sehr unterschiedlichen Kontexten zu analysieren. Er umfasst die Kategorien Vernunft, Routinen und Erfahrungen sowie das Aufheben von Ungewissheit neben dem eigentlichen Vertrauen als positive Erwartungshaltung trotz Verwundbarkeit und Ungewissheit.
In Großbritannien wurden Geschäftsbeziehungen zwischen Druckereien und ihren Papierlieferanten untersucht. Hier handelt es sich um gefestigte Beziehungen, in denen Vertrauen gut etabliert, aber dennoch nicht völlig unproblematisch ist. Die Geschäftspartner kennen die gegenseitigen Interessen, wissen welchen Nutzen sie aus der Beziehung ziehen und können auch die gegenseitige Vertrauenswürdigkeit sehr gut einschätzen. Neben dieser rationalen Seite gibt es aber auch viele Routinen und Selbstverständlichkeiten in der alltäglichen Zusammenarbeit, die das Vertrauen stützen und erleichtern. Und die guten Erfahrungen, die man miteinander gemacht hat und weiterhin macht, sind der wichtigste Grund für das gegenseitige Vertrauen. Tritt einmal ein Problem auf, so wird nicht das Vertrauen entzogen, sondern es bietet sich die Gelegenheit, durch konstruktives, gemeinsames Problemlösen das Vertrauen weiter zu festigen. Dennoch sind sich die Vertreter beider Seiten darüber im Klaren, dass sie verwundbar sind und sich nicht sicher sein können, ob der Partner immer vertrauenswürdig war, ist und sein wird. Sie sind es gewohnt, diese Ungewissheit zu ertragen, nehmen die Möglichkeit der Enttäuschung in Kauf, versuchen aber auch, die Abhängigkeit von ihrem Partner gering zu halten.
Die gleichen Aspekte, allerdings in ganz anderer Ausprägung, finden sich auch in neuen Geschäftsbeziehungen zwischen chinesischen und ausländischen Unternehmen in China. Dort hat es die Vernunft als Grundlage des Vertrauens zunächst recht schwer, da man die Interessen des Gegenübers nur schwer durchschaut und kaum berechnen kann, welchen Nutzen man selbst aus der Zusammenarbeit ziehen wird. Nicht zuletzt aufgrund kultureller Unterschiede lässt sich die Vertrauenswürdigkeit des anderen kaum einschätzen. Auf Routinen und Selbstverständlichkeiten als Vertrauensgrundlage kann ebenfalls nur bedingt zurückgegriffen werden, auch weil der institutionelle Rahmen in China unzuverlässig ist, da er selbst dem Wandel unterliegt, politische Widersprüche aushalten muss und von Korruption geplagt ist. Für die Reflexivität als Grundlage des Vertrauens in Geschäftsbeziehungen fehlen oft die Erfahrungen miteinander und aus Sicht des ausländischen Partners die eigenen Erfahrungen in China. Man muss sich erst noch vertraut machen, dabei aber eigentlich schon sehr viel riskieren. Daraus folgt, dass man beim Aufbau von vertrauensvollen Geschäftsbeziehungen in China in sehr hohem Maß Ungewissheit aufheben muss. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass in der Praxis oft keine positive Erwartung, sondern vielmehr Misstrauen vorliegt. Viele Unternehmen scheuen den Einstieg in China oder erleben dort große Enttäuschungen, die dann aber zumindest teilweise auch wieder auf die eigene mangelnde Vertrauensfähigkeit und nicht allein auf die mangelnde Vertrauenswürdigkeit der Partner zurückgeführt werden können.