Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie
Wann und wohin? Vogelwanderungen auf der Spur
When and where to? On the track of bird movements
Vogelwarte Radolfzell (Dr. Wolfgang Fiedler)
MPI für Ornithologie, Seewiesen
Vogelwanderungen haben die Menschen von jeher fasziniert und schon zu Deutungen über deren Zweck und Ziel veranlasst, noch ehe überhaupt klare Vorstellungen über die Kontinente existierten. Sichtbare Vogelwanderungen wurden als Hinweise auf den Willen der Götter oder zumindest als Boten für den Wintereinbruch oder das Frühjahr gedeutet. Im antiken Griechenland erklärte man das herbstliche Verschwinden der Schwalben zwar noch damit, dass diese sich im Herbst im Schlamm der Gewässer eingraben und beim Kuckuck vermutete man, dass er sich im Herbst in einen Sperber verwandelt. Zugleich gab es aber auch schon erste Vorstellungen davon, dass Vögel auch weite Wanderungen vollbringen und erste Versuche einer individuellen Markierung von Vögeln sind aus dieser Zeit belegt. Vor allem Taubenzüchter waren es, die mittels kleiner Bändchen oder Metallstreifen versucht haben, mehr Informationen über das Verhalten Ihrer Vögel zu erhalten. Die individuelle Markierung von Vögeln zählt auch heute – neben neueren Ansätzen – zum unverzichtbaren Handwerkszeug in der Ornithologie, wenn es um die Verfolgung von Individuen durch Raum und Zeit geht. Für die verschiedensten Fragestellungen wurden im 20. Jahrhundert in Europa schätzungsweise 115 Millionen Vögel mit kleinen Kennzeichnungsringen markiert, die von so genannten Vogelberingungszentralen mit einer Kurzadresse und einem einmaligen Buchstaben- und Zahlencode versehen ausgegeben werden. Eine dieser Beringungszentralen befindet sich an der Vogelwarte Radolfzell, die Teil des Max-Planck-Instituts für Ornithologie ist und die eine ganz besondere Verbindung zu dieser wissenschaftlichen Methode hat: Ihr Gründer, Johannes Thienemann, hat ab 1901 nach ersten Erfolgen des dänischen Lehrers Hans Christian C. Mortensen weltweit erstmals in großem Stil die Markierung von Vögeln durch Beringung vom damaligen Institutsstandort im ostpreußischen Rossitten aus eingeführt. Heute werden an der Vogelwarte Radolfzell zur Aufklärung von Wanderbewegungen längst nicht mehr nur die Vogelringe, sondern auch vom Boden oder vom Weltraum aus verfolgbare Peilsender und Datenlogger sowie genetische Analysen und Analysen stabiler Isotope in Körpergeweben verwendet. Hinsichtlich der Kosten und der Verfügbarkeit großer Datenmengen kommt der Beringung aber nach wie vor eine methodische Schlüsselfunktion zu, wie im Folgenden einige Beispiele zeigen sollen.
Ehrenamt ist gefragt
Ein Großteil der Studien, in deren Rahmen Vögel individuell markiert werden, wird durch Ehrenamtliche getragen. Über 8000 solcher qualifizierter „Beringer“ sind in Europa aktiv, etwa jeder zehnte davon in Deutschland. Gerade bei Untersuchungen, die langjährige Datenreihen erfordern, wie beispielsweise Verhaltens- oder Bestandsänderungen, liefern Ehrenamtliche einen Datensatz, dessen Beschaffung anders nicht zu finanzieren wäre. In kaum einem anderen Forschungsbereich arbeiten heute Amateure und Profis so vielfältig und so eng zusammen wie in der Ornithologie. Dabei erledigen die Amateure längst nicht nur die einfache Feldarbeit. Viele von ihnen sind dank jahrzehntelanger Beschäftigung mit ihren Studienobjekten herausragende Kenner der Biologie ihrer Studienarten und verfügen zugleich über beste Kenntnisse zu deren Fang. Gerade Letzteres ist bei vielen Arten keineswegs trivial und spielt selbst dann noch eine Rolle, wenn zu Verfahren der individuellen Verfolgung wie etwa zu Satelliten-Peilsendern oder zur genetischen Bestimmung der Populationszugehörigkeit gegriffen werden soll, denn auch dann muss man den Vogel zunächst einmal in den Händen halten.
Vögel sind Persönlichkeiten
Selbst unter Normalbedingungen zeigen Individuen derselben Art und desselben Geschlechts Unterschiede in ihrer Physiologie und ihrem Verhalten. Was beim Menschen gemeinhin als Persönlichkeitsunterschiede anerkannt wird, wurde bei Tieren lange Zeit übersehen. Unterschiede wurden eher ungenauen Messungen zugeschrieben oder einer schlechten Anpassung an bestehende Umweltbedingungen. Durch Beringung eines Vogels wird dieser für den Beobachter zum wiedererkennbaren Individuum, dessen Lebensgeschichte und Schicksal sich verfolgen und im evolutionsbiologischen Kontext untersuchen lässt. Auch Persönlichkeiten lassen sich objektiv untersuchen, sei es durch überwiegend beschreibende Verhaltensbeobachtungen, durch ontogenetische Untersuchungen zur Plastizität von Verhalten oder durch Feldstudien zu Überlebensrate und Fortpflanzungserfolg von Vertretern verschiedener Verhaltensstrategien. Verhaltenstypen können beispielsweise auf Umweltveränderungen unterschiedlich reagieren oder können unterschiedlich empfindlich gegenüber Stress sein. Gezielte Beobachtungen markierter Individuen möglichst über deren ganzes Leben hinweg und umfangreiche Datenbanken, wie sie aus den Beringungs- und Wiederfunddaten markierter Vögel aufgebaut werden, können Fragen nach den Konsequenzen verschiedener persönlicher Verhaltensstrategien beantworten.
Besondere Individuen
Individuell erkennbare Vögel ermöglichen Einblicke in außergewöhnliche Lebensgeschichten. Beispielsweise wurde ein weiblicher Weißstorch bis ins Jahr 2004 regelmäßig als Brutvogel in Mittelfranken beobachtet, der 1977 unweit seines späteren Brutortes geboren und beringt wurde. Dieser Vogel erreichte damit ein Mindestalter von 27 Jahren. Rein rechnerisch hat er in dieser Zeit eine Flugleistung von weit über 100.000 km bewältigt. Den weltweiten Altersrekord bei einem freilebenden Vogel hält ein Schwarzschnabel-Sturmtaucher, ein albatrosähnlicher Hochseebewohner, der im Mai 1957 als fünf- oder sechsjähriger Vogel nördlich von Wales markiert und nach 52 Jahren lebend nochmals gefangen und nach Untersuchung wieder freigelassen wurde. Unter den Streckenrekordhaltern rangiert eine Flussseeschwalbe ganz vorne, die am 27. Juni 2003 als Küken in Zentralschweden beringt und im Dezember desselben Jahres in über 17.000 km Entfernung in Neuseeland tot aufgefunden wurde. Zu den an der Vogelwarte Radolfzell belegten Rekordhaltern zählt ein nordbadischer Weißstorch, dessen erste Wanderung im Alter von etwa drei Monaten ihn nach Südafrika bis ins 9340 km entfernte Strandfontein führte.
Vogelzug
Die Fähigkeit zu ausgedehnten Wanderungen zwischen Regionen, die zu unterschiedlichen Zeiten besonders günstige Lebensbedingungen bieten, dürfte eine der hauptsächlichen Ursachen für die faszinierende Diversität der Vögel darstellen. Die Variation der durch Evolution entstandenen Strategien ist dabei unglaublich groß und reicht von kurzen, wenige Kilometer umfassenden Ausweichbewegungen z.B. bei Schneelagen bis zu regelmäßigen saisonalen Wanderungen von über 10.000 Kilometern [1]. Populationen derselben Vogelarten und sogar verschiedene Geschlechter oder Altersgruppen innerhalb derselben Populationen können deutlich unterschiedliche Zugstrategien verfolgen (Beispiel Teichrohrsänger in Abb. 1d). Schließlich kann sich das Zugverhalten innerhalb eines Vogellebens und natürlich über die Generationen hinweg verändern (Beispiel Mönchsgrasmücke in Abb. 1b, [2]). Einige Vogelarten wandern in breiter Front in südwestlicher, andere in südöstlicher Richtung über Deutschland und wieder andere wie etwa der Kranich folgen relativ engen „Zugstraßen“. Invasionsvögel wie Seidenschwanz oder Bergfink schließlich führen nur unter bestimmten Rahmenbedingungen ihre auffälligen Invasionswanderungen durch. Einige wenige Arten wandern als Altvögel praktisch gar nicht mehr, jedoch können Jungvögel bis zur Brutansiedlung hunderte Kilometer umherstreifen (Beispiel Schleiereule in Abb. 1c).
Angesichts dieser enormen Vielfalt ist es nicht verwunderlich, dass trotz hundertjähriger intensiver Untersuchung das Bild, das sich Ornithologen von den Zugbewegungen machen, noch erhebliche Kenntnislücken aufweist. Andererseits stützen sich nahezu alle verfügbaren Erkenntnisse über den räumlichen und zeitlichen Ablauf des Vogelzuges auf Ergebnisse aus der Vogelberingung. Zusätzlich werden seit einigen Jahren neuere Methoden wie beispielsweise Peilsender eingesetzt, die es ermöglichen, Individuen vom Boden oder vom Weltall aus über größere Strecken zu verfolgen. Diese Methoden sind zwar teuer und im Moment noch mit etlichen technischen Limitationen behaftet. Sie können jedoch vor allem da Ergebnisse bringen, wo markierte Vögel andernfalls nicht aufgefunden oder nicht gemeldet werden. Datenpunkte aus der Vogelberingung erfordern nämlich nicht nur den Beringer, sondern auch einen Finder oder Beobachter des beringten Individuums, der seine Beobachtung an eine Beringungszentrale weiterleiten muss. Da Dichte und Bereitschaft dieser Finder in Raum und Zeit keineswegs gleich verteilt sind, müssen die Ergebnisse gegebenenfalls mit aufwändigen statistischen Verfahren korrigiert werden. Zusätzlich ist es unter wesentlicher Beteiligung der Vogelwarte Radolfzell gelungen, die Rückmeldewahrscheinlichkeiten durch Angabe einer Internetadresse auf den Ringen (www.ring.ac) und die Fernablesbarkeit von Markierungsringen durch Verwendung moderner Materialien und Bearbeitungsverfahren deutlich zu erhöhen.
Monitoring und Populationsdynamik
Standardisierte Fang-Wiederfangprogramme im Rahmen der Vogelberingung helfen nicht nur, die in verschiedenen Abkommen vorgeschriebenen Vorgaben für ein Biomonitoring zu erfüllen, sondern bieten darüber hinaus auch die Möglichkeit, langfristige Populationsänderungen zu verfolgen und so populationsdynamische Prozesse zu verstehen [3]. Neben der individuellen Markierung von Vögeln stehen heute in eingeschränktem Maße nur genetische Verfahren zur Verfügung, um grundlegende Parameter wie Immigration, Emigration und Überlebensrate für Populationen abschätzen zu können. Gemeinsam mit dem Cornell Lab for Ornithology (USA) wurde an der Vogelwarte ein Verfahren entwickelt [4], mit dem auch die von anderen Faktoren (z.B. Witterung) beeinflussten Beringungsdaten großer und über viele Jahre betriebener Beringungsstationen für die Bestandsschätzung von Populationen verwendet werden können (Abb. 2).
Vogelberingung und Klimaänderung
Lange bevor Folgen der Klimaänderung in aller Munde waren, haben Ornithologen auf entsprechende beobachtbare Verhaltensänderungen bei Vögeln hingewiesen. Frühere Ankünfte von Zugvögeln im Frühjahr, früherer Beginn der Brutzeit, eine nordwärtige Verschiebung von Vorkommensarealen und eine Zunahme von Winterbeobachtungen eigentlich ziehender Arten in nördlichen Breiten geben klare Hinweise auf eine generelle Erwärmung Mitteleuropas [5]. Eine Analyse der seit über 100 Jahren in Deutschland gesammelten Beringungsdaten ergab bei einem Drittel der 30 untersuchten, ziehenden Brutvogelarten eine Reduktion der Zugaktivität. Eine derzeit laufende Analyse zeigt, dass diese Reduktion von Wanderentfernungen auch bei nur kurze Strecken wandernden Arten gefunden werden kann (Beispiele in Abb. 3). Die individuelle Markierung ermöglicht darüber hinaus, individuelle Strategien zu identifizieren. So geht die derzeit beobachtbare frühere Ankunft und der spätere Abzug des Mauerseglers aus Mitteleuropa einher mit einer beobachtbaren Zunahme von Zweitbruten, also der kompletten Absolvierung von zwei Brutzyklen durch dieselben Elternindividuen innerhalb einer Saison. Die Ausbreitung dieser neuen Strategie und die Konsequenzen daraus für die Individuen werden mit Spannung zu verfolgen sein.
Von Vögeln übertragene Krankheiten
Mit dem Näherrücken des hoch pathogenen Geflügelpesterregers H5N1 aus Asien erreichte im Jahr 2005 das öffentliche Interesse an Zugbewegungen von Vögeln eine nie zuvor gekannte Dimension. Risikoabschätzungen für ganze Regionen wurden auf die Aussagen von Vogelkundlern zu Zugbewegungen gestützt. Diese Aussagen wiederum basierten fast ausschließlich auf den Ergebnissen aus der Vogelberingung (Beispiel für Süddeutschland in Abb. 1a). Hauptgrund für dieses große Interesse von Öffentlichkeit und Politik war die Vermutung, wandernde Wasservögel könnten die Hauptvektoren von H5N1 sein. Wiederum mittels der aus der Beringung gewonnenen Erkenntnisse war es möglich, Diskrepanzen zwischen dem Weg des Erregers und den Wegen der Zugvögel aufzuzeigen [6], was ein deutlicher Beleg für die Existenz anderer, sehr wahrscheinlich anthropogener Übertragungswege ist. Dennoch ist der Transport von Geflügelpest über längere Strecken durch ziehende Wasservögel bisher nicht ganz auszuschließen. Ein besonderes Augenmerk ist derzeit daher auf Arten wie die Stockente gerichtet, die einerseits häufig ganzjährig in Parks und Siedlungen auftreten, andererseits aber durchaus weite Wanderungen vollziehen kann (Abb. 4). Die Rolle von Vögeln als Reservoire oder Vektoren von Krankheitserregern ist gegenwärtig noch zu wenig verstanden. Neben den evolutionsbiologisch interessanten Parasit-Wirt-Systemen mit derart mobilen Wirtsorganismen wie sie die Vögel darstellen, gibt es durchaus direkt für den Menschen relevante Krankheiten, bei denen Vögel eine Rolle spielen. West-Nil-Virus, Psittacose, Badedermatitis und eine Reihe von Phytopathogenen sind hier nur Beispiele. Neben experimentellen Ansätzen kommt schon heute bei entsprechenden Untersuchungen der individuellen Identifizierbarkeit potenzieller Wirte im Freiland durch Beringung eine bedeutende Rolle zu.
Von der Vogelberingung zum Artenschutz
Kenntnisse der Zusammenhänge von Brut-, Durchzugs- und Wintergebieten sind ebenso wie Daten zu Sterblichkeiten innerhalb und zwischen Populationen grundlegende Voraussetzung für erfolgreiche Artenschutzstrategien bei Vögeln. Diese Daten können nur über individuell markierte Individuen gesammelt werden, wobei die Beringung die einfachste und billigste Methode bietet, um die nötige Datengrundlage für aussagekräftige Analysen zu beschaffen. Zugvögel sind „Global Player“ und das, was wir im menschlichen Sinne als ihr Heimatgebiet ansehen, bezieht sich entsprechend natürlich nicht nur auf ihre Brutgebiete. Gründe für die derzeit bei zahlreichen Arten feststellbaren Populationsrückgänge müssen nicht zwangsläufig dort liegen, wo die Reproduktion stattfindet. Ringfunde von Vögeln geben Auskunft über die Aufenthaltsorte im Laufe eines Vogellebens und damit Hinweise darauf, wo nach möglichen Ursachen für Bestandsänderungen zu suchen ist. Statistische Verfahren der so genannten Fang-Wiederfang-Analyse ermöglichen es, auf der Basis individuell markierter Individuen Überlebensraten zwischen Jahren, zwischen Regionen oder vor und nach speziellen Schutzmaßnahmen zu berechnen und zu vergleichen oder den relativen Anteil bestimmter Todesursachen an der Gesamtsterblichkeit zu bestimmen.