Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht

Rechtshilfe und Rechtsstaat – Ein Beitrag zur Bewältigung des Justizkonflikts zwischen den USA und Deutschland

Autoren
von Hein, Jan
Abteilungen

Internationales Privat-, Verfahrens- und Wirtschaftsrecht
MPI für ausländ. und internat. Privatrecht, Hamburg

Zusammenfassung
Im Verfahren Napster gegen Bertelsmann wehrte sich die deutsche Bertelsmann AG gegen die Zustellung einer US-amerikanischen Sammelklage, einer sogenannten class action, in Höhe von 17 Milliarden US-Dollar. Der Zweite Senat des angerufenen Bundesverfassungsgerichts bat das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht um ein Gutachten zu den Rechtsfragen, die durch die Zustellung einer US-amerikanischen class action aufgeworfen werden. Das Institut empfahl eine Rückkehr zur rechtshilfefreundlichen Linie des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Dem folgt auch die neuere Rechtsprechung des Zweiten Senats.

Fundamentale Unterschiede der Rechtsordnungen

Seit Jahrzehnten schwelt mit wechselnder Intensität ein Justizkonflikt zwischen Deutschland und den USA. Ursache sind fundamentale Unterschiede zwischen dem deutschen und dem US-amerikanischen Recht. Anders als in Deutschland kann ein Kläger in den USA Straf- oder mehrfachen Schadensersatz verlangen, der explizit abschreckend wirken soll (punitive and treble damages). Ansprüche einer Vielzahl von Geschädigten können in den USA zudem mithilfe einer dem deutschen Recht unbekannten Sammelklage (class action) gebündelt werden. Diese Klageform verwirklicht die verfassungspolitische Grundentscheidung, Bürger mithilfe prozessualer Normen maßgeblich an der Umsetzung einer vom Gesetzgeber verabschiedeten Regulierung zu beteiligen (regulation through litigation). Trotz kritischer Äußerungen in Rechtsprechung und Schrifttum halten der US-amerikanische Kongress und die Gesetzgeber der Bundesstaaten an diesem Rechtsinstitut fest.

Die class action des US-amerikanischen Verfahrensrechts ist eine Stellvertreterklage, die der geschädigte Repräsentant für sich und die – in Großverfahren häufig nicht namentlich bekannten – Mitglieder der class erhebt. Diese Form des Prozessrechts zielt darauf ab, auch bei niedrigen Schadenssummen einen effizienten Ausgleich zu schaffen, Einzelansprüche bei Großschäden in einem Kollektivverfahren zu bündeln und die Anwälte zu motivieren, die Mitglieder der class aktiv zu vertreten. Während ferner das deutsche Beweisrecht traditionell den Grundsatz des Nemo tenetur contra se edere („Niemand muss etwas vorbringen, das gegen ihn spricht“) und das Verbot des sogenannten Ausforschungsbeweises hochhält, zwingt die US-amerikanische pre-trial discovery den Beklagten dazu, dem Kläger umfangreiches Beweismaterial zu übergeben. Befremdlich ist aus deutscher Sicht schließlich, dass die obsiegende Partei nach der sogenannten American Rule on Costs keine Erstattung ihrer Prozesskosten vom Gegner verlangen kann.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 bis 2005

Die rechtshilfefreundliche Linie des Ersten Senats

Aufgrund dieser Risiken und Unwägbarkeiten eines Verfahrens in den USA fürchten deutsche Unternehmen wohl nur wenige Dinge mehr, als dort vor Gericht gezogen zu werden. Seit Ende der 1980er-Jahre haben in den USA verklagte deutsche Unternehmen deshalb versucht, den dortigen Verfahrensfortgang so früh wie möglich zu behindern, indem die Zustellung einer US-amerikanischen Klage auf deutschem Staatsgebiet nach dem Haager Zustellungsübereinkommen (HZÜ) abgewehrt werden soll. Die Oberlandesgerichte stuften jedoch class actions und Klagen auf punitive damages zunächst einhellig als Zivilsachen im Sinne des Art. 1 HZÜ ein. In der Zustellung entsprechender Klageschriften sahen sie auch nicht die Hoheitsrechte oder die Sicherheit Deutschlands gefährdet (Art. 13 Abs. 1 HZÜ). Da der Bundesgerichtshof über Fragen der Bewilligung einer Zustellung nur entscheiden darf, wenn ein Oberlandesgericht von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts abweichen will (Divergenzvorlage nach § 29 Abs. 1 Satz 2 EGGVG), bestand lange Zeit allein in der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit, zu einer verbindlichen Entscheidung auf nationaler Ebene zu kommen.

Im August 1994 erließ der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts überraschend eine einstweilige Anordnung, mit der er die Zustellung einer auf punitive damages gerichteten Klage untersagte. Noch im Dezember desselben Jahres erging jedoch die inhaltlich entgegengesetzte Entscheidung in der Hauptsache, mit der die Zustellung gestattet wurde. Der Erste Senat stützte sich dabei im Wesentlichen auf drei Argumentationslinien: Erstens betonte er, dass Art. 13 Abs. 1 HZÜ im Lichte des dem Übereinkommen zugrunde liegenden Vereinfachungs- und Beschleunigungszwecks sehr restriktiv gehandhabt werden müsse und nicht mit dem ordre public („öffentliche Ordnung“) des inländischen Rechts gleichgesetzt werden könne. Andernfalls wäre es nötig, die Klageschrift inhaltlich zu überprüfen, wodurch das Verfahren unweigerlich verzögert würde. Zweitens stellten die Richter darauf ab, dass im Zeitpunkt der Zustellung keinesfalls schon feststehe, dass die Beklagte tatsächlich zur Zahlung von punitive damages verurteilt werde. Drittens bezweifelte der Erste Senat, dass es sich bei der Blockade einer Auslandszustellung in Deutschland überhaupt um ein effektives Mittel zum Schutz der deutschen Partei handele, denn die alternativ zum HZÜ nach US-amerikanischem (bundes- oder einzelstaatlichem) Recht zulässigen Formen der Inlandszustellung würden von einer solchen Sperre nicht erfasst. Lediglich in Fällen, in denen die Zustellung unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaates, wie sie auch in internationalen Menschenrechtsübereinkommen verankert seien, beeinträchtigen würde, behielt sich der Erste Senat die Möglichkeit vor, die Zustellung zu verweigern.

Die Anordnung des Zweiten Senats in der Sache Napster gegen Bertelsmann und der Beitrag des Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht

Im Juli 2003 erließ jedoch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine viel beachtete einstweilige Anordnung, mit der er die Zustellung einer US-amerikanischen Sammelklage auf 17 Milliarden Dollar Schadensersatzzahlung untersagte. Bertelsmann hatte Kredite an die Internet-Musiktauschbörse Napster vergeben, die sich in den USA wegen zahlreicher Urheberrechtsverletzungen verantworten musste. Die Kläger warfen Bertelsmann vor, sich aufgrund der strategischen Beteiligung an dem nach US-Recht illegalen Napster-Geschäftsmodell der Beihilfe zu den behaupteten Urheberrechtsverletzungen schuldig gemacht zu haben. Die exorbitant hohe Summe ergab sich aus der Addition der pauschalierten Ersatzansprüche für jeden einzelnen „Download“. Der Zweite Senat setzte die Zustellung aus, weil er die Gefahr sah, dass die deutsche Beklagte durch die von den amerikanischen Klägern aufgebaute Drohkulisse – aus Sammelklage, exorbitanter Schadenshöhe und medialem Druck – in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbaren Weise zu einem Vergleich erpresst werden solle.

Der Zweite Senat forderte beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht ein Gutachten zu den aufgeworfenen Rechtsfragen an [1]. Klaus J. Hopt, Rainer Kulms und Jan von Hein kamen zu dem Ergebnis, dass die Anwendung des HZÜ für sich genommen nicht daran scheitert, dass die Kläger ihre Ansprüche mittels einer class action verfolgen. Ferner gestatte es Art. 13 Abs. 1 HZÜ dem ersuchten Staat nur bei einer Gefährdung seiner Hoheitsrechte oder seiner Sicherheit, die Zustellung zu verweigern. Diese bewusst restriktiv gefasste Vorbehaltsklausel sei eng auszulegen. Schließlich warnten die Gutachter vor den praktischen Folgen einer Zustellungsverweigerung: Würde man sie mit der Höhe einer Schadensersatzforderung begründen, könnten amerikanische Kläger zukünftig auf eine Bezifferung von Klageanträgen verzichten. Darunter würde der ohnehin geringe Informationsgehalt einer amerikanischen Klageschrift leiden. Eine Zustellungsverweigerung durch deutsche Gerichte würde amerikanische Kläger ferner dazu ermuntern, auf die auch nach dem HZÜ zulässigen Inlandszustellungen nach nationalem Recht auszuweichen, die aber nur ein geringeres Maß an Information gewährleisteten (zum Beispiel sei keine Übersetzung notwendig). Verschärfte Prüfungsmaßstäbe würden schließlich die deutschen Justizverwaltungsbehörden erheblich belasten, denn sie müssten in einem sehr frühen Verfahrensstadium Ordre-public-Erwägungen anstellen, dafür aber würden die zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Unterlagen kaum ausreichen.

Anders als im Jahre 1994 kam es aber in der Sache Napster gegen Bertelsmann nicht zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache. Die Klageschrift wurde einem in New York weilenden Vorstandsmitglied der Bertelsmann AG persönlich übergeben und auf diese Weise der Beklagten zugestellt. Während das Verfahren in den USA seinen Gang nahm und sich Bertelsmann dort auch zur Sache einließ, verlängerte das Bundesverfassungsgericht alle sechs Monate eine Anordnung, mit der die Beschwerdeführerin vor der förmlichen Zustellung der ihr inhaltlich längst bekannten Klageschrift geschützt wurde. Diesen Zustand beendete die Bertelsmann AG im November 2005 selbst, indem sie die Verfassungsbeschwerde zurücknahm. In der Öffentlichkeit wurde dieser Schritt damit begründet, man sei zu der Einsicht gelangt, dass auch eine endgültige Verweigerung der Zustellung in Deutschland keinerlei Einfluss mehr auf das amerikanische Verfahren haben würde. Nachdem einzelne Kläger bereits im Jahr 2005 mit Bertelsmann einen Vergleich geschlossen hatten, zog im September 2006 auch die Universal Music Group ihre Klage gegen eine Zahlung von 60 Millionen US-Dollar durch Bertelsmann zurück. Hintergrund dieses Vergleichs war der Verkauf der Bertelsmann Musiksparte (BMG) an die französische Universal-Mutter Vivendi S.A.

Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung

Die Fachgerichte

Die durch die einstweilige Anordnung in der Sache Bertelsmann aufgeworfenen Rechtsfragen blieben deshalb auf der verfassungsgerichtlichen Ebene zunächst unbeantwortet. In der fachgerichtlichen Rechtspraxis hatte die Anordnung vom Juli 2003 für beträchtliche Unsicherheit gesorgt. Zahlreiche Oberlandesgerichte setzten anhängige Verfahren aus, um abzuwarten, wie sich das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache entscheiden würde. Das Oberlandesgericht Koblenz wagte einen radikaleren Schritt: Es rief im Juni 2005 unter dem Eindruck der Bertelsmann-Anordnung im Wege der Divergenzvorlage den Bundesgerichtshof an, um in einem Fall, der eine kartellrechtliche Sammelklage auf dreifachen Schadensersatz gegen die Boehringer Ingelheim GmbH & Co KG betrifft, eine Abkehr von der bisherigen rechtshilfefreundlichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte herbeizuführen. Nach Ansicht der Koblenzer Richter handelt es sich bei einem solchen Fall nicht um eine Zivil- oder Handelssache im Sinne des Art. 1 Abs. 1 HZÜ; zumindest werde gegen die Souveränität der Bundesrepublik im Sinne des Art. 13 Abs. 1 HZÜ verstoßen. Der Bundesgerichtshof hat hierüber noch nicht entschieden. Andere Oberlandesgerichte haben inzwischen klargestellt, dass sie nicht gedenken, sich der Koblenzer Rechtsauffassung anzuschließen.

Die aktuellen Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2007

Angesichts dieser unübersichtlichen fachgerichtlichen Rechtslage verdienen zwei Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2007 besondere Aufmerksamkeit. Die 1. Kammer des Zweiten Senats entschied am 24. Januar, dass die Zustellung einer auf punitive damages gerichteten Klage nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoße (2 BvR 1133/04, RIW 2007, 211, mit Anm. von Hein, ebd. 249–255). Auch in den oben genannten Besonderheiten des US-amerikanischen Rechts (pre-trial discovery, American Rule on Costs) sah die Kammer keine Gründe, die generell einer Zustellung entgegenstünden. Die Tür zu einer Missbrauchskontrolle im konkreten Einzelfall hielt sich das Gericht jedoch offen. In einem weiteren Beschluss vom 14. Juni 2007 (2 BvR 2247, 2248, 2249/06, WM 2007, 1392) bestätigte dieselbe Kammer die Rückkehr zur Linie des Ersten Senats auch für Sammelklagen (class actions). Auch diese Form der Bündelung gleichgerichteter Interessen verletze keine unverzichtbaren rechtsstaatlichen Grundsätze, sofern nicht im konkreten Einzelfall ein Rechtsmissbrauch vorliege. Das Gericht stützte sich in seiner jüngsten Entscheidung mehrfach auf das Gutachten von Hopt, Kulms und von Hein. Vor allem machte es sich die Warnung der Gutachter vor den kontraproduktiven Folgen einer Zustellungsverweigerung zu eigen. So heißt es in dem Beschluss (WM 2007, 1392, 1395): „Die Einhaltung der völkerrechtlichen Grenzen bei der Auslegung und Anwendung von Art. 13 HZÜ durch deutsche Staatsorgane stellt keinen Selbstzweck dar; vielmehr sichert nur sie die Befolgung des Haager Zustellungsübereinkommens auch durch die anderen Vertragsstaaten im Interesse der Zustellungsempfänger und hilft so, den Rückgriff auf alternative Zustellungen zu vermeiden, die die Rechtsposition deutscher Beklagter wesentlich erschweren“ [1, S. 155ff.].

Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bildet folglich ein erfreuliches Beispiel für die praktische Relevanz der rechtsvergleichenden Grundlagenforschung am Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht.

Originalveröffentlichungen

K.J. Hopt, R. Kulms und J. von Hein (Hg.):
Rechtshilfe und Rechtsstaat.
Mohr Siebeck, Tübingen 2006.
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