Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Pflanzenzüchtungsforschung
Chromatinstruktur und die Kontrolle von Genen
Chromatin structure and gene control
Entwicklungsbiologie der Pflanzen (Prof. Dr. George Coupland)
MPI für Pflanzenzüchtungsforschung, Köln
Ordnung ist das halbe Lebewesen
Ein Art „Quantensprung“ der Evolution zu höheren Lebewesen war die Akquise eines Zellkernes sowie eines dazugehörigen Ordnungssystems, das es ermöglichte, das Erbgut innerhalb dieses abgeschlossenen Organells unterzubringen. Diese geordnete Struktur bezeichnet man als Chromatin. Chromatin besteht aus Erbinformation in Form der Desoxyribonukleinsäure (DNS), die sich um Komplexe aus Proteinen, bezeichnet als Histone, wickelt. Der so entstehende Superkomplex kann in elektronenmikroskopischen Aufnahmen aussehen wie eine Perlenkette, kann aber auch weiter verdrillt sein, um eine noch größere Packungsdichte zu erreichen (Abb. 1).
Einen Preis hat die bessere Ordnung allerdings: Während das Erbgut in Bakterien, also kernlosen Zellen, sozusagen nackt ist und damit direkt abgelesen werden kann, ist die verpackte DNS der höheren Lebewesen nur bedingt zugänglich. Das erschwert Prozesse wie die Replikation – das ist die Verdopplung der DNS bei der Zellteilung - und die Transkription - das Ablesen der DNS - erheblich. Aus diesem Grunde benötigen beide Prozesse eine Vielzahl an Helferkomplexen, die den Zugang zur DNS zumindest lokal und zumeist nur temporär ermöglichen.
Chromatin-Helfer und Histonkode
Die Chromatin-Helferkomplexe verschieben Proteinkomplexe entlang der DNS, tauschen Proteinkomplexe aus oder verändern die Packungsdichte des Chromatins. Oft werden eine Reihe verschiedener Helfer nacheinander benötigt, um ein Gen zu aktivieren oder wieder abzuschalten. Dabei hinterlassen sie oft eine Art Lesezeichen in Form von chemischen Veränderungen der Histone, die von anderen Helfern spezifisch erkannt werden und dazu dienen, den nächsten Helferkomplex zu rekrutieren. Die Vielzahl dieser möglichen Histonmodifikationen führte vor einigen Jahren zur Formulierung der Histonkode-Hypothese. Diese Hypothese besagt, dass die Kombination verschiedener Histonveränderungen erlaubt, Aussagen darüber zu machen, ob ein Gen gerade abgelesen wird oder nicht [1].
Während es die Aufgabe vieler Chromatin-Helferkomplexe ist, das Ablesen des Erbguts zu ermöglichen, haben andere Helferkomplexe die Funktion, genau dieses zu verhindern. Auch diese Komplexe haben ihren Histonkode, das heißt spezielle Histonmodifikationen, die daran beteiligt sind, dass bestimmte Gene nicht oder besonders schwer ablesbar sind.
Verschlossene Gene
Welchen Sinn hat es für einen Organismus, Gene zu besitzen, die nur schwer zugänglich sind? Zum einen ist nicht jedes Gen, das sich im Erbgut befindet, dem Organismus zu Nutzen. Tatsache ist, dass besonders in höheren Lebewesen das Erbgut mit Genen angefüllt vorliegt, die ursprünglich aus Viren oder virenähnlichen Genen entstanden sind. Diese Gene werden in der Regel abgestellt, indem das umgebende Chromatin besonders kompakt und damit unzugänglich gemacht wird. Ganz anders ist die Situation bei Genen, deren Aktivität eine Schlüsselfunktion in der Entwicklung eines bestimmten Zelltyps spielt. Hier ist es wichtig, dass das kontrollierte Gen nur dann abgelesen wird, wenn es gebraucht wird, ansonsten aber komplett ausgeschaltet bleibt. Das Chromatin-Lesezeichen, das mit dem Abschalten dieser wichtigen Gene einhergeht, ähnelt dem für die schädlichen Gene, spricht aber andere Helferkomplexe an.
Histonkode mit pflanzlichem Dialekt
Wenn man das Auftreten von Histonmodifikationen in Pflanzen und Tieren vergleicht, lässt sich als Erstes feststellen, dass die Aminosäure-Bausteine, die im Rahmen des Histonkodes verändert werden, zu dem Bereich der Histone gehören, der innerhalb aller Lebensformen die stärkste Ähnlichkeit zeigt. Dies lässt auf eine konservierte Funktion der Lesezeichen schließen. Moderne Techniken, man fasst sie unter der Bezeichnung „genomische Immunpräzipitation“ zusammen, erlauben es, das Auftreten bestimmter Modifikationen vieler Gene oder sogar das ganze Erbgut eines Organismus gleichzeitig zu untersuchen. Bei diesen Analysen tritt zu Tage, dass Tiere, Pflanzen und sogar Hefen zwar im Großen und Ganzen den Histonkode teilen, manchmal aber einen gewissen Dialekt des Kodes verwenden [2]. So ist zum Beispiel das Abschalten von Genen mit viralem Ursprung in Tieren mit einer subtil anderen chemischen Veränderung eines bestimmten Histons verknüpft als in Pflanzen. Dies lässt darauf schließen, dass das Protein, welches die Histonmodifikation in beiden Organismen spezifisch erkennt, ein anderes ist oder andere Bindungseigenschaften besitzt.
Es kann auch passieren, dass ein Protein eines pflanzlichen Chromatin-Komplexes die Bestimmung wechselt und andere Funktionen übernimmt als das entsprechende Protein in Tieren. Das Protein HP1 (HETEROCHROMATIN PROTEIN1) erkennt in Tieren die Histonveränderung, die virale Gene abschaltet. In der Modellpflanze Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand) ist das verwandte Protein LHP1 (LIKE-HETEROCHROMATIN 1) in denjenigen Prozess eingebunden, der Gene reguliert, die in der Pflanzenentwicklung eine Rolle spielen (Abb. 2) [3].
Sexy Beine und Chromatin als Entwicklungshelfer
Der genetische Signalweg, auf dessen Seite sich das LHP1 Protein in Pflanzen geschlagen hat, wurde zuerst durch die Untersuchung von Mutanten der Fruchtfliege entdeckt. Diese Mutanten haben einen abnormalen Körperbau, bei dem Körpersegmente ihre Bestimmung verändern, sodass alle Beinpaare der Fliegen wie das erste aussehen, welches die so genannten Sex-Kämme trägt. Da jetzt alle Beinpaare diese Kämme aufwiesen, werden die Mutanten mit dem Sammelbegriff „Polycomb-Gruppe“ bezeichnet. Die Gene, die in den Fruchtfliegenmutanten betroffen sind, sind inzwischen identifiziert, und die dadurch veränderten Proteine sind nach und nach in ein generelles Modell eingebunden worden (Abb. 3). Ein Zielgen wird durch die Polycomb Gruppe reguliert, indem ein erster Komplex rekrutiert wird, der aus Proteinen dieser Gruppe besteht und Polycomb Repressive Complex 2 (PRC2) heißt,. PRC2 setzt das Chromatin-Lesezeichen, das zu dem Signalweg gehört. Dieses Lesezeichen wird von einem zweiten Komplex, dem Polycomb Repressive Complex 1 (PRC1), erkannt. PRC1 bleibt an dem Lesezeichen hängen und verschließt so den Zugang zu dem Gen, das dann nicht mehr abgelesen werden kann [4].
Im Gegensatz zur Situation in Fruchtfliegen, wo sich die Mutanten der Polycomb-Gruppe im Prinzip ähneln, sehen entsprechende Mutanten der Ackerschmalwand sehr unterschiedlich aus (Abb. 4). Das liegt daran, dass sich die Gene, die die Erbinformation für PRC1- und PRC2- Komponenten der Ackerschmalwand tragen, vervielfacht haben und dann die Aufgaben auf verschiedene Schultern verteilt haben. Kombiniert man Mutationen der einzelnen Komponenten, erhält man Pflanzen, die mehr und mehr in ihrer Entwicklung gestört sind und schließlich nur noch als undifferenzierter Zellklumpen überleben. Diese Zellen haben gewissermaßen „vergessen“, welchen Zelltyp sie eigentlich ausbilden sollten. Aus diesem Grunde spricht man auch davon, dass der Polycomb-Gruppen-Signalweg für das molekulare Gedächtnis von Zellen verantwortlich ist. Die weitere Untersuchung von Signalwegen zur Regulation der Genexpression via Chromatin-Komplexen und –Komponenten wird wesentlich dazu beitragen, Genome und ihre Evolution – mithin die Entstehung des Lebens als Ganzes – im Zusammenhang zu begreifen und den Begriff des „Gens“, einstmals durch den Botaniker Wilhelm Johannsen im Jahre 1909 geprägt [5], fortschreitend zu definieren.