Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

Mein Körper und ich: Wie durch körperliche Erfahrungen Ich-Bewusstsein entsteht

Autoren
Schütz-Bosbach, Simone
Abteilungen
Max-Planck-Forschungsgruppe Körperrepräsentation und Selbstkonzept
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
Zusammenfassung
Die Frage nach dem Ursprung von Ich-Bewusstsein und der inneren Repräsentation des Selbst beim Menschen ist in den vergangenen Jahren von den kognitiven Neurowissenschaften neu entdeckt worden. Aktuelle Forschung zeigt, dass insbesondere interne motorische Vorhersageprozesse an der automatischen Selbstzuschreibung von Ereignissen sowie dem subjektiven Erleben von Urheberschaft und Kontrolle über Handlungen beteiligt sind. Demnach können zentrale Aspekte unseres Selbst unmittelbar in unserem Körper verortet und als Begleitprodukt von Handlungen charakterisiert werden.

Wer bin ich? Was ist das Selbst? Antworten auf diese Fragen zu finden, gehört zu den ältesten und zentralen Anliegen der Philosophie. Vorherrschende Denkweisen betonen die Rolle des Geistes und unterschätzen den leiblich-körperlichen Aspekt. René Descartes brachte die strikte Trennung von Körper und Geist in seinem berühmten Zitat: „Ich denke, also bin ich“ auf den Punkt. Die Frage nach dem Ursprung von Ich-Bewusstsein und der inneren Repräsentation des Selbst ist in den vergangenen Jahren von den kognitiven Neurowissenschaften neu entdeckt worden. Dabei zeichnet sich eine deutliche Abkehr vom cartesischen Dualismus ab, zugunsten der Auffassung, dass das sensorische und motorische System im menschlichen Gehirn sowie die Interaktion mit der Umwelt eine tragende Rolle bei der Ausbildung menschlicher Kognition spielen. Vertreter der embodied cognition sind der Ansicht, dass körperliche Erfahrung unser Denken organisiert und sowohl unsere Erkenntnisfähigkeit ermöglicht als auch das Bewusstsein unserer selbst.

Das Körper-Ich

Die Annahme eines in körperlichen Prozessen fundierten Ichs (minimal self) kommt auch unserem Alltagsverständnis von uns selbst näher. Die durch Berührung oder Körperbewegungen entstehenden unmittelbaren Informationen werden von unserem Gehirn zu einer stabilen, übergeordneten Körperrepräsentation zusammengefügt und vermitteln die Erfahrungen der „Meinhaftigkeit“ des Körpers und des körperlichen Erlebens ebenso wie das Erlebnis, Urheber von Handlungen zu sein. In unserem täglichen Leben entziehen sich diese unmittelbaren körperlichen Erfahrungen der bewussten Reflexion. Der Körper scheint einfach da zu sein und liefert einen stabilen physischen Hintergrund für subjektive Erfahrungen. Ebenso selbstverständlich erleben wir uns als von anderen getrennte, unabhängige Wesen und können Körperzustände und Handlungen normalerweise problemlos uns selbst oder anderen Personen zuschreiben. Woher kommt diese Selbst-Verständlichkeit, mit der wir unser Selbst geradezu gleichsetzen mit unserem Körper?

Unser Körper ist für uns allgegenwärtig und das wohl vertrauteste Objekt, mit dem wir buchstäblich „in Berührung“ kommen. Mithilfe von empirischen Untersuchungen haben Neurowissenschaftler in den vergangenen Jahren damit begonnen, diese Allgegenwart der körperlichen (Selbst-)Erfahrung näher zu erforschen und ihr fundamentales Wesen zu ergründen. Eine Hauptschwierigkeit dabei ist es, geeignete Experimente zu entwickeln: Die ideale empirische Untersuchung wäre der Vergleich von zwei Bedingungen, in denen der Proband entweder einen Körper hat oder körperlos ist. Eine solche Brain-in-a-Vat-Studie lässt sich allerdings ganz offensichtlich nur als ein Gedankenexperiment realisieren. In den kognitiven Neurowissenschaften haben sich daher verschiedene technische Verfahren und Methoden etabliert, mit deren Hilfe man Körperbewusstsein bei gesunden Probanden untersuchen kann. Die physikalischen Gesetze, denen unserer Körper normalerweise unterliegt, können zum Beispiel im Kontext von virtuellen Realitäten aufgehoben oder gezielt manipuliert und ihr Einfluss auf diese Weise systematisch charakterisiert werden. Körperliche Wahrnehmung und Selbsterleben lassen sich insbesondere durch die Erzeugung von sogenannten Körperillusionen verändern.

Körperillusionen

So führt eine von außen ausgelöste Vibration am Bizeps einer Person zu einem sehr überzeugenden Eindruck, dass sich der Arm plötzlich verlängert. Fasst man sich während dieser Prozedur mit verbundenen Augen an die eigene Nase, entsteht das Gefühl, dass auch die Nase bedeutend länger wird. Bei diesem als Pinocchio-Illusion bekannten Phänomen stört die Vibration kurzfristig das Lageempfinden des Armes und signalisiert dem Gehirn eine vermehrte Streckung. Ein anderes spektakuläres Beispiel ist die sogenannte Rubber-Hand-Illusion [1], bei der Personen eine künstliche Hand als Teil ihres Körpers erleben [2]. Hierbei betrachten Versuchspersonen eine Gummihand, die wiederholt mit einem Pinsel berührt wird. Gleichzeitig erfährt die Person dieselbe taktile Stimulation auf ihrer verdeckten Hand. Diese synchrone visuelle und taktile Stimulation führt schließlich nach einiger Zeit zu der Täuschung, die tatsächliche Berührung der eigenen Hand ereigne sich an der künstlichen Gliedmaße. Werden der künstlichen Hand zudem Schmerzreize verabreicht, lässt sich sogar eine physiologische Angstreaktion bei den Testpersonen nachweisen.

Neue Befunde zeigen außerdem, dass sich diese Illusion auch auf den ganzen Körper übertragen lässt [3]. So konnten Forscher mithilfe einer speziellen Videobrille die optische Perspektive von Probanden dahin gehend verändern, dass diese sich selbst von außen sahen. Wurden zeitgleich Berührungsreize auf dem Körper des Probanden und seiner virtuellen Projektion verabreicht, spürten Probanden die Berührung zuerst auf dem virtuellen Körper und erlebten sich örtlich in diesen versetzt. Diese Techniken haben die Erforschung von Körperrepräsentation und -bewusstsein revolutioniert, da sie die systematische Untersuchung im Hinblick auf Struktur, Plastizität und Konsequenz von Embodiment ermöglichen.

Die Abgrenzung des Körpers

Auch wenn uns unser Alltagsempfinden die Einzigartigkeit und Unabhängigkeit des eigenen Körpers suggeriert, ist aus wissenschaftlicher Sicht die Frage nach der Abgrenzung von Selbst und Fremd bislang nur in Ansätzen verstanden. Insbesondere die Entdeckung von gemeinsamen Repräsentationen von Selbst und Fremd, nahegelegt durch die Existenz von Spiegelneuronen, impliziert, dass die Zuschreibung der Handlungen zu uns selbst oder einer anderen Person ein zentrales Problem unseres sensomotorischen Systems darstellt. Spiegelneurone wurden bei Macaquen-Affen entdeckt; sie zeichnen sich durch die Eigenschaft aus, nicht nur bei der Ausführung einer Handlung zu reagieren, sondern auch dann, wenn das Tier lediglich beobachtet, wie ein anderes Individuum dieselbe Handlung ausführt. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl empirischer Hinweise darauf, dass selbsterzeugte und bei anderen Personen beobachtete Handlungen überlappende neuronale Netzwerke aktivieren. Es scheint also eine gemeinsame Repräsentation von Selbst und Fremd zu geben. Das widerspricht der Annahme, dass der eigene Körper in grundsätzlich anderer Weise als der Körper eines Gegenübers in unserem Gehirn repräsentiert wird und führt zu der Frage, wie wir Selbst und Fremd unterscheiden [4, 5].

Kontrolle über Handlungen

Aktuelle Studien der Forschungsgruppe Körperrepräsentation und Selbstkonzept am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften legen nahe, dass die Überwachung der unmittelbaren Signale des (aktiven) Körpers eine automatische Abgrenzung von anderen Personen und eine klare Zuschreibung von Urheberschaft für Handlungen ermöglicht [6, 7]. Hierfür ist offenbar ein Abgleich und eine Übereinstimmung zwischen tatsächlichen und vorhergesagten sensorischen Konsequenzen von eigenen Handlungen entscheidend. Durch eigene Bewegungen hervorgerufene beziehungsweise korrekt vorhergesagte sensorische Effekte werden durch Hemmung der entsprechenden Areale abgeschwächt. Man nennt diesen Vorgang sensorische Attenuierung. So werden selbstproduzierte Töne beispielsweise leiser wahrgenommen [7].

In einer dieser Studien wurden Probanden gebeten, auf einen einfachen geometrischen Stimulus hin (Kreis oder Rechteck) eine linke oder rechte Taste zu betätigen (Abb. 1). Daraufhin folgte ein nach oben oder unten gerichteter Pfeil als Effektstimulus. Die Pfeilrichtung stimmte entweder mit der Richtung eines zu Beginn des Versuchsdurchganges gezeigten Pfeiles überein oder nicht. Letzterer wurde maskiert präsentiert, von den Probanden aber unbewusst wahrgenommen. Auf diese Weise wurde bei den Probanden eine Erwartung über den visuellen Effekt am Ende eines Versuchsdurchganges hervorgerufen. Die Übereinstimmung zwischen maskiertem und Effektstimulus sollte eine Kontrollillusion hervorrufen, also die Überzeugung, dass der Effektstimulus kausal durch das Betätigen der Taste von dem Probanden hervorgerufen wurde. In Wirklichkeit war die Zuordnung zwischen Tastendruckhandlung und Effektstimulus jedoch vollkommen zufällig. Diese Kontrollillusion ließ sich tatsächlich empirisch bestätigen [6]. Entsprach der Effektstimulus den Erwartungen der Probanden, erlebten sie ihn als selbstproduziert. Außerdem stellten die Forscher fest, dass diese Kontrollillusion mit der Reduktion der sogenannten N1-Komponente einherging, einer frühen, im EEG ablesbaren Reaktion auf Reize, die als etablierter neurophysiologischer Marker der sensorischen Attenuierung („Abschwächung“) gilt. Dieses Experiment spricht dafür, dass bewusstes Kontrollerleben offenbar in Mechanismen zur Handlungssteuerung begründet ist.

Die Ergebnisse können einen wichtigen Beitrag dazu liefern, integrale Aspekte des Selbstkonzeptes, wie das bewusste Erleben von Kontrolle, quantifizierbar zu machen und auf diese Weise seine Wirkung auf andere kognitive Prozesse, auch in verschiedenen Anwendungsbereichen (zum Beispiel Mensch-Maschine-Interaktionen), untersuchen zu können.

Soziale (Körper-)Spiegel

Eine jüngst publizierte Studie derselben Forschungsgruppe zeigte zudem, dass Kontrollerleben und das damit verbundene sensomotorische Aktivitätsmuster durch soziale Interaktionen moduliert werden können [8]. Probanden wurden gebeten, die Lautstärke eines selbst- oder fremdgenerierten Tones mit einem neutralen Ton zu vergleichen. Entweder erzeugte dabei der Proband auf Anweisung des Versuchsleiters einen Ton oder der Versuchsleiter produzierte ihn auf Anweisung des Probanden per Tastendruck (Abb. 2). Es zeigte sich eine sensorische Attenuierung für selbsterzeugte Töne. Sie wurden leiser wahrgenommen, vor allem dann, wenn die Handlung im sozialen Kontext, also unter Einbeziehung der anderen Person ausgeführt wurde. Dieses Ergebnis liefert erstmals empirische Evidenz für die These, dass zentrale Aspekte des Ich-Bewusstseins nicht nur körperlich verankert sind, sondern durch intersubjektive Erfahrungen und soziale Spiegel entstehen [9, 10].

In Zukunft wollen die Wissenschaftler den Beitrag subjektiver und intersubjektiver Erfahrungen zur Entstehung des Selbstkonzeptes näher erforschen.

Botvinick, M.; Cohen, J.
Rubber hands ‘feel’ touch that eyes see.
Nature 391, 756 (1998)
Schütz-Bosbach, S.; Tausche, P.; Weiss, C.
Roughness perception during the Rubber-Hand-Illusion.
Brain and Cognition 70 (1), 136–144 (2009)
Leggenhager, B.; Tadi, T.; Metzinger, T.; Blanke, O.
Video ergo sum: Manipulating bodily selfconsciousness.
Science 317, 1096–1099 (2007)
Schütz-Bosbach, S.; Mancini, B.; Aglioti, S. M.; Haggard, P.
Self and other and in the human motor system.
Current Biology 16 (8), 1830–1834 (2006)
Schütz-Bosbach, S.; Avenanti, A.; Aglioti, S.; Haggard, P.
Don't do it! Cortical inhibition and self-attribution during action observation.
Journal of Cognitive Neuroscience 21 (6), 1215–1227 (2009)
Gentsch, A.; Schütz-Bosbach, S.
I did it: Unconscious expectation of sensory consequences modulates the experience of self-agency and its functional signature.
Journal of Cognitive Neuroscience 23 (12), 3817–3828 (2011)
Weiss, C.; Herwig, A.; Schütz-Bosbach, S.
The self in action action effects: Selective attenuation of self-generated sounds.
Cognition 121 (2), 207–218 (2011)
Weiss, C.; Herwig, A.; Schütz-Bosbach, S.
The self in social interactions: Sensory attenuation of auditory action effects is stronger in interactions with others.
PLoS ONE 6 (7), e22723 (2011)
Prinz, W.
Mirror games.
In: Morganti, F.; Carassa, A.; Riva, G. (eds.), Enacting intersubjectivity: A cognitive and social perspective on the study of interactions. Amsterdam: IOS Press 165–174 (2008)
Schütz-Bosbach, S.; Prinz, W.
Perceptual resonance: Action-induced modulation of perception.
Trends in Cognitive Sciences 11 (8), 349–355 (2007)
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