Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
Die Lösung eines alten Rätsels: Der kritische Punkt der Rohrströmung
In seiner ursprünglichen Studie [1] beobachtete Reynolds, dass Wasser in einem geraden Rohr bei niedrigen Geschwindigkeiten geradlinig und gleichmäßig strömt, bei hohen Geschwindigkeiten hingegen ist die Strömung stark verwirbelt und zeitlich und räumlich fluktuierend. Durch Versuche mit Rohren verschiedener Durchmesser (D) und Flüssigkeiten unterschiedlicher Zähigkeit gelang es Reynolds, eine der wichtigsten Entdeckungen in der Strömungsmechanik zu machen: Verwirbelungen in Rohren treten umso eher auf, je größer der Durchmesser und je kleiner die Viskosität (ν) der Flüssigkeit ist. Hieraus leitete Reynolds ab, dass nicht der Absolutwert der Geschwindigkeit ausschlaggebend ist, sondern dieser in Relation zum Durchmesser und zur Viskosität gesetzt werden muss. Dies resultierte im hydrodynamischen Ähnlichkeitsprinzip, welches besagt, dass sich bei gleichem Wert des Parameters Re = UD/ν, der sogenannten Reynold’schen Zahl, Strömungen dynamisch ähnlich verhalten. In Reynolds Messungen trat Turbulenz typischerweise erstmals auf, wenn Re einen Wert von ca. 2.000 überschritten hatte. Allerdings passierte dies nicht immer und in einem akurater aufgebauten Rohr beobachtete er Turbulenzen erst ab Werten für Re > 13.000.
Diese, obigem Ähnlichkeitsprinzip scheinbar widersprechende, Beobachtung konnte Reynolds durch folgenden Zusammenhang erklären: Er erkannte, dass Turbulenzen in Rohrströmungen nie von selbst entstehen, sondern immer eine zusätzliche Störung (z. B. eine Vibration, eine Druckschwankung oder eine Unebenheit in der Rohrwand) notwendig ist. Somit hängt der Übergang zur Turbulenz von dem jeweiligen Rohrversuch und dessen Imperfektionen und Störstellen ab. Zusätzlich prognostizierte Reynolds die Existenz eines exakten kritischen Punktes, den er wie folgt definierte: Wird die Strömung am Rohreingang, z. B. durch Einbringen eines Hindernisses, stark genug verwirbelt, so wird diese Verwirbelung stromabwärts entweder absterben oder sich ausbreiten – je nachdem, ob die Strömung unterhalb oder oberhalb der kritischen Reynoldszahl ist. Trotz dieser sehr einfachen Definition konnte Reynolds auch zehn Jahre nach Beginn seiner Messungen diese Zahl nicht genau bestimmen. Seinen letzten Schätzungen zufolge lag er etwa zwischen 1.900 und 2.000. Auch in den darauffolgenden 100 Jahren gelang es Wissenschaftlern nicht, diesen kritischen Punkt genauer zu bestimmen. Im Gegenteil – Messwerte streuten über einen Bereich der Reynoldszahl von 1.500 bis 2.500.
Ein Grund für die Komplexität dieses Problems ist die raum-zeitlich intermittente Natur der Turbulenz in diesem Reynoldszahlenregime: Turbulenz füllt hier nur Teilbereiche des Rohres aus und andere Abschnitte der Strömung bleiben laminar. Die turbulenten Bereiche, sogenannte turbulente Flecken, haben eine typische Länge und bewegen sich mit etwa der mittleren Strömungsgeschwindigkeit zum Rohrausgang. Eine weitere Komplikation ist der Umstand, dass turbulente Strukturen auf ihrer Reise stromabwärts wieder zerfallen können und die Zeitskalen, auf denen dieser Prozess abläuft, sind extrem lang. Wie erstmals im Jahr 2004 von Forschern an der Universität Marburg für Rohrströmungen gezeigt wurde, ist dieser Zerfallsprozess gedächtnislos. Dies bedeutet, dass turbulente Strukturen nicht altern, sondern dass deren Absterben plötzlich stattfindet und der Zerfallszeitpunkt nicht vorhersagbar ist. Wie beim Zerfall radioaktiver Materialien, kann nur eine mittlere Zeit bestimmt werden. Um diese mittlere Zeit für jede Reynoldszahl exakt bestimmen zu können, sind hunderttausende Wiederholungsmessungen notwendig.
Die ersten Computersimulationen dieser Prozesse [2] wiesen darauf hin, dass sich dieses Verhalten ab einem gewissen Schwellenwert ändert und hier individuelle turbulente Flecken dauerhaft erhalten bleiben. Aus diesen Berechnungen wurde ein kritischer Punkt von Rec = 2.250 abgeleitet. Allerdings konnten hier Turbulenzen nur in sehr kurzen Rohrabschnitten und für vergleichsweise kurze Zeiträume simuliert werden. In sehr detaillierten Experimenten wurde später gezeigt, dass turbulente Flecken auch bei viel höheren Reynoldszahlen weiterhin zerfallen [3,4]. Zwar steigen die Lebenszeiten mit der Reynoldszahl extrem schnell an, so dass schon bei Werten um die 2.000, Messungen über mehrere Tage notwendig sind; sie bleiben wohl aber für alle Re endlich. Somit konnte aus der zeitlichen Dynamik kein kritischer Punkt bestimmt werden.
Die Lösung des Problems gelang den Wissenschaftlern in Göttingen dadurch, dass sie auch die räumliche Dynamik der Turbulenz berücksichtigten [5]. Experimente hierzu fanden in sehr akkuraten Rohren statt, die gemessen am Rohrdurchmesser (D = 4 mm) mit 3.500D sehr lang waren. Die Strömung wurde anfangs laminar gehalten, um dann gezielt an einer Stelle (durch Injektion eines Wasserstrahls durch ein kleines Loch in der Rohrwand) einen turbulenten Flecken erzeugen zu können. Stromabwärts konnte an mehreren Messpunkten überprüft werden, ob sich diese Struktur verändert hat. Wie sich herausstellte, können turbulente Flecken nicht nur zerfallen, sondern sich auch ausbreiten. Letzteres geschieht dadurch, dass ein vorhandener Fleck durch Ablösung einer Verwirbelung einen neuen Flecken in einem angrenzenden Gebiet erzeugt (Abb. 1).
Überraschenderweise handelt es sich auch bei diesem Ausbreitungsverhalten um einen gedächtnislosen Prozess. Somit kann durch detaillierte statistische Messungen wieder eine mittlere Zeit als Funktion der Reynoldszahl bestimmt werden, die diesen Prozess beschreibt. Bei niedrigen Reynoldszahlen ist die Ausbreitungswahrscheinlichkeit extrem gering und viele tausend Messungen sind nötig, um einige wenige Flecken zu finden, die sich ausbreiten. Die Wahrscheinlichkeit steigt dann aber extrem schnell mit der Reynoldszahl (schneller als exponentiell) an.
Das Schicksal einer turbulenten Strömung wird somit durch zwei Prozesse bestimmt – durch das Absterben lokaler Strukturen und durch deren Ausbreitung. Wenn Strukturen schneller zerfallen, als sie sich ausbreiten, verschwindet die Turbulenz, im umgekehrten Fall bleibt sie erhalten. Abbildung 2 zeigt die mittleren Zeiten für beide Prozesse (linker Ast Absterbezeiten, rechter Ast Ausbreitungszeiten). Die gesuchte kritische Reynoldszahl ist der Schnittpunkt der beiden Äste bei Rec = 2.040. Es handelt sich hierbei um einen Nichtgleichgewichts-Phasenübergang (im thermodynamischen Limit).