Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Blattkäferlarven: Wirtspflanzenwechsel verändert Giftcocktail
Blattkäferlarven und ihre chemische Abwehr
Die Blattkäfer (Chrysomelidae) bilden mit rund 50000 weltweit verbreiteten Arten eine besonders große Familie unter den Käfern. Als Pflanzenfresser sind die Kartoffelkäfer, Pappelblattkäfer oder Erlenblattkäfer gefürchtete Schädlinge. Käfer und Larven von Chrysomela lapponica befallen in Nord- und Zentraleuropa zwei verschiedene Baumarten: Weiden und Birken. Um sich vor feindlichen Angriffen zu schützen, produzieren sie Buttersäureester oder Salicylaldehyd als chemische Abwehrsubstanzen, mit denen sie Ameisen, Schwebfliegen und andere karnivore Insekten abschrecken. Auf ihrem Rücken besitzen die Larven neun paarig angeordnete Drüsensysteme, aus denen sie bei Gefahr durch Muskelanspannung Tröpfchen mit den Wehrsubstanzen herauspressen (Abb. 1). Ist die Gefahr vorüber, werden die Substanzen durch Entspannung der Muskeln wieder in das Reservoir aufgenommen. So stehen sie auch bei mehrfachen Attacken in vollem Umfang zur Verfügung. Die Herstellung der Giftstoffe ist aufwändig und beginnt bei C. lapponica mit der Aufnahme von glykosidisch gebundenen Vorstufen aus der Blattnahrung. Die Moleküle werden zuerst unspezifisch mittels Transporterproteinen durch die Darmmembran hindurch in den Körper transportiert. Von dort gelangen sie in die Hämolymphe, die durch das Tier zirkuliert und alle inneren Organe erreicht – auch das Wehrsystem wird von der Hämolymphe umspült. Weitere, nunmehr spezifische Transporter in den Wehrsystemen beziehungsweise Wehrdrüsen importieren dann selektiv die „richtigen“ Glycoside und leiten sie an das zentrale Reservoir weiter, in dem sich ein Cocktail der importierten Glycoside und biosynthetisch wirksamer Enzyme ansammelt [1]. Nachfolgend sind nur noch wenige Schritte notwendig, um die eigentlichen Abwehrstoffe zu erzeugen.
Das vollständige Wehrsystem kann mit einem Bioreaktor verglichen werden, in dem die gesamte Wehrchemie, isoliert vom empfindlichen Körper der Larven, ablaufen kann. Überschüssige und nicht verwendete Glycoside werden vom Verbundnetzwerk der Transportproteine über die Malpighischen Gefäße (Organe, die bei Insekten die Funktion ähnlich einer Niere übernehmen) wieder ausgeschieden [2, 3].
Prädatoren erzwingen Wirtspflanzenwechsel
Die meisten Blattkäferarten besiedeln nur eine einzige Pflanzengattung, um sich zu ernähren und fortzupflanzen. Weiden, die zur Familie der Salicaceae gehören, werden von vielen Blattkäferarten genutzt. Sie enthalten in ihren Blättern bis zu fünf Prozent des Glucosids Salicin, das auch die Larven der Art C. lapponica bevorzugt aufnehmen. Nach Transport in das Reservoir wird es dort zu Salicylaldehyd umgebaut. Dies erfordert nur zwei Enzyme, nämlich eine Glucosidase, die den Zucker entfernt, und eine Oxidase (hier: die Salicyl-Alkohol-Oxidase; SAO; Abb. 2), die aus dem freigesetzten Salicylalkohol den Aldehyd generiert. Salicylaldehyd ist nicht nur ein wirksames Abwehrmittel, sondern verhindert auch mikrobielle Infektionen der Larven. Allerdings ist Salicylaldehyd auch eine weithin wahrnehmbare, flüchtige und riechende Verbindung. Sie schreckt nicht nur Fraßfeinde ab, sondern sie kann auch karnivore Insekten herbeirufen. Unter anderem werden Schwebfliegen (Syrphiden) und Wanzen angelockt [4]. Um den Karnivoren auszuweichen, wechseln einige Blattkäferarten einfach ihre Wirtspflanzen und erhalten dadurch ein neues Duftprofil. Larven von C. lapponica wechselten daher von Weiden auf Birken als Futterpflanzen. Dies führte zu einem völlig veränderten Giftcocktail in ihrem Wehrsekret, da Birken kein Salicin besitzen, das sie zu Salicylaldehyd hätten umbauen können.
In den Wehrsekreten der Weidenbewohner stellt der Salicyladehyd mit mehr als 90 Prozent die Hauptkomponente dar [5]. Entsprechend dominant aktiv ist in ihren Wehrsekreten auch die dazu erforderliche Salicyl-Alkohol-Oxidase (SAO). In den Sekreten der Birkenbewohner befinden sich keinerlei Aldehyde, sondern ausschließlich Esterverbindungen, entstanden aus den als Glucoside importierten Blattalkoholen wie beispielsweise Phenylethylbutyrat ([5]; Abb. 2B).
Birkenpopulationen verlieren die Salicyl-Alkohol-Oxidase-Aktivität
In einigen speziellen Biotopen existieren Birken- und Weidenbewohner nebeneinander, und dies ohne genetische Durchmischung. Da der Wirtspflanzenwechsel vermutlich schon sehr lange zurückliegt, stellte sich die Frage, inwieweit sich die Neuanpassung an Birken bereits im Inventar der Biosynthese-Enzyme bemerkbar gemacht hat. Biochemische Analysen hatten wie schon erwähnt gezeigt, dass das Drüsensekret von Salicylaldehyd produzierenden Weidenschädlingen tatsächlich das Enzym Salicyl-Alkohol-Oxidase in auffallend großer Menge enthält (SAO-W; W für Weide). Da die Weiden- und Birkenbewohner noch zur Art C. lapponica gehören, sollten auch die Birkenbewohner eine entsprechende SAO besitzen. Mithilfe bekannter DNA-Sequenzdaten wurde das SAO-B (B für Birke) kodierende Gen aus den Birkenschädlingen isoliert und untersucht. Es stellte sich heraus, dass im Verlauf der Anpassung und Evolution die Aminosäuresequenzen der beiden Enyzme zwar noch zu 97 Prozent identisch geblieben sind, allerdings ist die SAO-B durch den Wegfall von 27 Aminosäuren am Anfang der Polypeptidkette inaktiv geworden, bedingt durch eine Mutation, die sich im Bereich des zweiten Exon-Intron-Übergangs des SAO-B-Gens befindet. Diese ruft eine veränderte Prozessierung der Boten-RNA (mRNA) hervor, ein so genanntes alternatives Spleißen, was den Wegfall der 27 Aminosäuren im SAO-B-Enzym hervorruft [6]. Der Verlust der katalytischen Aktivität der SAO-B konnte nach heterologer Expression in einer Insektenzellkultur bestätigt werden. Weitere Untersuchungen an den Wehrdrüsen der Birkenkonsumenten zeigten außerdem, dass dort die mRNA des SAO-B-Gens in 1000-fach geringerer Menge im Vergleich zu den Weidenschädlingen vorhanden war; infolge dessen können auch keine nachweisbaren Mengen der ohnehin inaktiven SAO-B gebildet werden [6].
Der völlige Ausfall der SAO-Aktivität bei den Birkenbewohnern ist in Übereinstimmung mit den Veränderungen im Wehrsekret, das weder Aldehyde noch andere Oxidationsprodukte aufweist. Die Birkenbewohner sparen sich dadurch auch die aufwändige Produktion des SAO-B-Enzyms, das sie nicht mehr benötigen, weil dessen Substrat Salicylalkohol zwar in Weiden-, aber nicht in Birkenblättern vorkommt. Auch, so lässt sich vermuten, verraten sie sich durch den Wegfall des Salicylaldehyds – im Gegensatz zu ihren auf Weiden lebenden Artgenossen – nicht mehr den ihnen feindlich gesinnten Prädatoren, die anhand der duftenden Aldehyde die Blattkäferlarven aufspüren und auffressen können [6].
Bildung einer neuen Art nach Wirtspflanzenwechsel?
Es ist noch unklar, ob die Genmutationen den Wirtswechsel von Weide auf Birke ermöglicht oder gar erzwungen haben oder ob erst nach erfolgreichem Wirtswechsel auf die Birke das „überflüssige und kostspielige“ Enzym im Verlauf der Evolution eliminiert wurde. Indizien sprechen dafür, dass sich ein Wirtswechsel von C. lapponica von Weide auf Birke mehrfach und unabhängig vollzogen haben könnte, zieht man Populationen in Finnland, Tschechien und im Altai in Betracht, wo jeweils Weiden- und Birkenbewohner vorkommen. Genetische Analysen weiterer SAO-Gene aus Chrysomela-Populationen der verschiedenen Standorte werden den molekularen Hintergrund der Wirtswechsel näher beleuchten. Es ist unwahrscheinlich, dass an allen Standorten exakt diejenigen Mutationen und Deletionen im SAO-B-Gen aufgetreten sind, die bei der hier beschriebenen Birkenkäfer-Population aus dem Altai festgestellt wurden. Weiterhin ergeben sich Fragen nach den Mechanismen, die die Birkenbewohner nach dem Wirtswechsel davon abgehalten haben, wieder zur Weide zurückzukehren. Durch Paarungen zwischen Weiden- und Birkenbewohnern wären nämlich wieder intakte SAO-Gene ins Genom der Birkenbewohner eingeführt worden, was aber nachweislich zumindest im Altai nicht der Fall gewesen sein kann. Denkbar wäre eine Fixierung der Tiere auf Geruchs- oder Geschmacksmuster der jeweiligen Wirtspflanzen.
Der hier beschriebene „radikale“ Wirtspflanzenwechsel mit nachfolgender genetischer Separierung der Populationen auf Weiden und Birken kann als der Beginn der Entstehung einer neuen Art betrachtet werden.