Forschungsbericht 2012 - Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie
Evolution vor unserer Haustür
Verstädterung von Tieren
In seinem "Buch vom Lachen und Vergessen" schrieb Milan Kundera 1978: "Im Verlauf der letzten zweihundert Jahre verließ die Amsel den Wald und wurde zum Stadtvogel. Zunächst in Großbritannien, dort bereits Ende des 18. Jahrhunderts, wenige Jahrzehnte später bei und in Paris sowie im Ruhrgebiet. Das neunzehnte Jahrhundert dann sah die Amsel eine europäische Stadt nach der anderen erobern. In Wien und Prag nistet sie seit ca. 1900, weiter südöstlich – in Budapest, Belgrad, Istanbul – tut sie inzwischen desgleichen. Vom Gesichtspunkt unseres Planeten aus war diese Invasion der Amsel in die Menschenwelt zweifellos wichtiger als die Eroberung Südamerikas durch die Spanier oder die Neubesiedlung Palästinas durch die Juden. Die Veränderung der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Gattungen der Schöpfung (Fische, Vögel, Menschen, Pflanzen) ist von höherer Ordnung als die Veränderung der Beziehungen innerhalb einer einzelnen Gattung. Ob Böhmen von Kelten oder Slawen bewohnt wird, ob Bessarabien von den Rumänen oder Russen beherrscht wird, das kann der Erdkugel ziemlich gleichgültig sein. Verrät jedoch die Amsel ihre ursprüngliche Natur, um dem Menschen in seine künstliche, widernatürliche Welt zu folgen, hat sich etwas in der Grundordnung auf unserem Planeten geändert [1]."
Was Milan Kundera in seinem Buch vor über 30 Jahren sehr trefflich schilderte, beschäftigt heutzutage Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Ornithologie, Radolfzell, um eben die geschilderte Änderung der Grundordnung auf unserem Planeten zu verstehen. Denn der Eingriff des Menschen in Ökosysteme ist allgegenwärtig. Schon allein die Existenz von Städten bedeutet eine der extremsten anthropogenen Veränderungen der Umwelt. Neben der Amsel haben sich viele andere Tier- und Pflanzenarten in unmittelbarer Nachbarschaft zum Menschen erfolgreich etabliert. Diese so genannten Kulturfolger nutzen die vom Menschen geförderten Futterquellen, und sie haben sich auch den neuen Feinden und anderen Gefahren in den Ballungsräumen sowie ganz neuartigem Stress scheinbar erstaunlich gut angepasst.
Der Verstädterungsprozess ermöglicht es Wissenschaftlern, wertvolle Erkenntnisse über ökologische Veränderungen zu sammeln. Die Städte sind hier in mancher Hinsicht "ideale Freilandlaboratorien", da der Einfluss des Menschen auch evolutionäre Konsequenzen haben könnte und damit die evolutionäre Veränderung von Arten beschleunigen kann [2].
Potenzieller Stressfaktor: die Stadt
Tiere, wie beispielsweise die Amsel, scheinen vom Lebensraum Stadt durch das wärmere Mikroklima und durch das erhöhte Nahrungsangebot deutlich zu profitieren. Auf der anderen Seite aber sind sie möglicherweise auch vielen neuen und potenziell stressvollen Situationen ausgesetzt, wie zum Beispiel der permanenten Präsenz des Menschen, der hohen Dichte an Haustieren, erhöhtem Lärm- und Lichtpegel sowie starkem Stadtverkehr.
Wirbeltiere – so auch der Mensch – bewältigen solche ungünstigen Umweltbedingungen mit einer akuten Stressantwort, welche durch die rasche Ausschüttung von so genannten Stresshormonen, den "Glukokortikoid-Steroid-Hormonen", gekennzeichnet ist. Die unmittelbare, aber kurzzeitige Ausschüttung dieser Hormone wird als nützliche Anpassung betrachtet. Denn sie hilft, bestimmte verhaltensphysiologische Änderungen auszulösen, um auf den akuten Stressfaktor schnell reagieren zu können. Unter anhaltenden Stresssituationen aber können die chronisch erhöhten Hormone erhebliche gesundheitliche Folgen haben: So können sie Fortpflanzung, Immunabwehr und Hirnfunktion beeinträchtigen. Folglich würden Tiere, die in Städten leben, unter den urbanen Bedingungen deutlich leiden, wenn sie ihre Stressantwort nicht den Stadtbedingungen angepasst hätten.
Bewirkt das Stadtleben Änderungen in der physiologischen Stressantwort und wenn ja, beruht diese Anpassung auf individueller Flexibilität oder aber ist sie das Ergebnis mikroevolutionärer Veränderungen, die im Zuge der Verstädterung entstanden sind? Um das zu testen, wurden Amsel-Nestlinge aus München und einem 40 Kilometer von München entfernten Waldgebiet von Hand aufgezogen (Abb. 1). Die Vogelgruppen lebten unter exakt denselben kontrollierten Umweltbedingungen, und zwar sowohl während ihrer Entwicklungsphase als auch später während des Experiments (Abb. 2).
Die Stadt- und Waldamseln wurden hierauf unter gleichen standardisierten Bedingungen einer akuten Stresssituation ausgesetzt und die Konzentration von Kortikosteron, dem Stresshormon von Vögeln, wurde bestimmt. Unter normalen, d.h. "stressfreien" Bedingungen unterschieden sich Stadt- und Waldamseln nicht in ihrer Kortikosteron-Ausschüttung. Aber unter akuter Stresssituation zeigten Stadtamseln eine deutlich verminderte hormonelle Stressantwort als die Waldamseln [3].
Diese Ergebnisse belegten erstmals, dass das Stadtleben verhaltensphysiologische Mechanismen, die zum Überleben notwendig sind, in Wildtieren deutlich verändert. Eine solche reduzierte hormonelle Stressantwort könnte allgegenwärtig und vermutlich bei vielen Tierarten, die in Städten erfolgreich leben, erforderlich sein. Weiterhin lassen die Ergebnisse vermuten, dass der Unterschied in der hormonellen Stressantwort zwischen Stadt- und Waldamseln wahrscheinlich das Ergebnis der extremen Selektionsfaktoren in der Stadt ist, wodurch jene Individuen einen Vorteil erlangen, die besser mit den "urbanen Stressfaktoren" zurechtkommen.
Städter oder Landei?
Basierend auf den vorangegangenen physiologischen Stressexperimenten wird aktuell am Max-Planck-Institut für Ornithologie die Hypothese getestet, ob das Stadtleben bestimmte Verhaltenscharaktere in Amseln favorisiert. Bekannt ist, dass die Verstädterung Verhaltensstrategien von Tieren grundlegend beeinflusst, wie zum Beispiel die deutliche Zunahme von Zahmheit in Anwesenheit von Menschen zeigt. Inwieweit aber das Leben in der Stadt allgemeine Charakteranlagen von Stadtamseln (vergleichbar mit den Persönlichkeitsprofilen, wie sie von Menschen geläufig sind) verändert hat und ob diese Unterschiede durch flexible Verhaltensänderungen oder durch mikroevolutionäre Prozesse entstanden sind, wird mittels standardisierten Verhaltenstests an handaufgezogenen Stadt- und Waldamseln untersucht.
Künstliches Stadtlicht als neuer Zeitgeber für biologische Rhythmen?
Die Stadt als neues Ökosystem ist zwar sehr komplex und divers, aber bestimmte Umweltfaktoren kann man in jeder Stadt finden. Dazu zählt ganz wesentlich das Stadtlicht. Straßenlaternen, Autolicht und Schaufensterbeleuchtungen können so grell sein, dass man mitten in der Nacht auf der Straße ohne Probleme einen Roman zu Ende lesen könnte. Die Menschen schützen sich vor dem nächtlichen Kunstlicht, indem sie einfach ihre Fensterjalousien herunterlassen und das Licht löschen. Aber wie kommen Wildtiere mit dem Kunstlicht zurecht? Hat das Licht der Straßenlaternen einen Einfluss auf das Verhalten von Tieren? Welche ökologischen und evolutionären Konsequenzen hat der Faktor Kunstlicht [4]?
Bekannt ist, dass in gemäßigten Breiten die Änderung der Tageslänge (Photoperiode) eines der wichtigsten Umweltsignale für die Steuerung tageszeitlicher (das heißt z. B. Schlaf-Wach-Zyklen) und saisonaler Rhythmen (z. B. Brutzeit, Mauser, Zug und Winterschlaf) ist. Bei vielen Tierarten werden diese Rhythmen ausschließlich durch Veränderungen der Tageslänge reguliert. Allerdings haben sich die Lichtbedingungen in den Städten deutlich verändert. Tiere, die Städte erfolgreich besiedelt haben, sind daher nun nicht nur den natürlichen Tag/Nacht-Lichtzyklen ausgesetzt, sondern erfahren zudem durch das Kunstlicht teilweise extreme Lichtverhältnisse während der Nacht.
Welchen Einfluss die Kombination aus der natürlichen Photoperiode und dem nächtlichen Kunstlicht auf die tages- und jahreszeitliche Organisation von Lebewesen hat, ist noch wenig erforscht. Indirekte Hinweise eines stimulierenden Effekts des Kunstlichts gibt es einige. So wurde schon mehrfach beobachtet und beschrieben, dass Stadtvögel verschiedener Arten (wie beispielsweise Amsel, Rotkehlchen, Blaumeise und Wanderdrossel) früher am Tag zu singen beginnen [5, 6]. Diese zeitliche Verschiebung der Gesangsaktivität in die Dämmerungsphase wurde aber nicht nur dem Kunstlicht zugeschrieben, sondern auch dahingehend interpretiert, dass z. B. Rotkehlchen dem störenden Straßenlärm dadurch zeitlich aus dem Weg gehen könnten [7].
Dank neuester Radiotelemetrie- und Mikrologgertechnik, mit der man die Lichtintensitäten messen kann, denen freilebende Vögel in den Städten ausgesetzt sind, untersuchen die Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell, wie künstliches Licht die tages- und jahreszeitliche Organisation von Singvögeln verändert (Abb. 3 und Abb. 4). Hierfür werden Amseln in München und dem bayrischen Umland mit Telemetrie-Sendern ausgestattet, die es ermöglichen, die Vögel zu orten. Gleichzeitig messen automatische Registrieranlagen die Aktivitäts- und Ruhemuster der mit Sendern ausgestatteten Stadt- und Waldamseln. Die Lichtintensitäten, denen die Vögel in der Nacht ausgesetzt sind, werden mit Mikrologgern gemessen. Diese Mikrologger sind mit einer lichtsensitiven Photodiode und einem kleinen Datenspeicher ausgestattet. Nach dem Einfangen der Vögel können die Daten ausgelesen werden.
Die neuesten Ergebnisse dieser Studie zeigten, dass die Vögel in der Stadt sehr geringen Lichtintensitäten ausgesetzt sind – nur ein Dreißigstel dessen, was eine typische Straßenlampe austrahlt. Um zu testen, ob diese geringen Lichtintensitäten für das frühe Brüten in der Stadt verantwortlich sind, setzten die Wissenschaftler gefangene Stadt- und Waldamseln über einen Zeitraum von zehn Monaten nachts einer Beleuchtungsstärke von 0,3 Lux aus. Die Resultate waren erstaunlich: Die Keimdrüsen der Vögel wuchsen im Durchschnitt fast einen Monat früher als bei Tieren, die nachts in Dunkelheit schliefen. Als weiteren Indikator für die Fortpflanzungsbereitschaft der Tiere maßen die Wissenschaftler den Testosteronwert im Blut der Vögel. Dieser stieg ebenfalls früher an, wenn die Vögel nachts Licht ausgesetzt waren. Auch die Gesangsaktivität kam durch das niedrige Nachtlicht aus dem Rhythmus. Die Tiere begannen rund eine Stunde früher mit ihrem Gesang. All dies weist darauf hin, dass die Tiere, jahreszeitlich gesehen, früher fortpflanzungsbereit sind. Diese Ergebnisse zeigen deutlich, dass das Kunstlicht, welches wir in Städten vorfinden, die jahreszeitliche Organisation von Wildtieren drastisch verändern kann [8].
Die Ergebnisse dieser laufenden Studie sollen einen weiteren Beitrag zur Frage des Einflusses, den die Verstädterung auf das Verhalten von Tieren ausübt, liefern und unser limitiertes Wissen über die ökologischen und evolutionären Konsequenzen der weltweit zunehmenden Verstädterung erweitern.
Literaturhinweise
Trends in Ecology and Evolution 21, 186-191 (2006)