Forschungsbericht 2013 - Max-Planck-Institut für Kernphysik

Dunkle Materie

Autoren
Lindner, Manfred; Marrodán Undagoitia, Teresa; Schwetz-Mangold, Thomas; Simgen, Hardy
Abteilungen
Teilchen- und Astroteilchenphysik (Manfred Lindner)
Zusammenfassung
Dunkle Materie wurde erstmals 1933 von dem Schweizer Astronomen Fritz Zwicky postuliert, der die kinetische Energie von Galaxien analysierte und so indirekt auf die Gesamtmasse des Systems schließen konnte, die wesentlich größer war als die sichtbare Masse. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe weiterer Beobachtungen, die ebenfalls indirekt auf die Existenz Dunkler Materie hindeuten, die insgesamt 27% des Universums ausmacht – normale Materie trägt nur 5% bei. Daher werden heute mit Experimenten wie XENON100 oder XENON1T große Anstrengungen unternommen, um die Dunkle Materie direkt nachzuweisen.

Einleitung

Das derzeit allgemein akzeptierte Modell des Universums beschreibt alle Beobachtungen, wie die Expansion des Universums, die Häufigkeiten chemischer Elemente und die Existenz der kosmischen Hintergrundstrahlung. Laut diesem Modell trägt die bekannte Form der Materie (Protonen, Neutronen, Elektronen) nur rund 5% zur Gesamtdichte des Universums bei. Rund 27% stellt die sogenannte Dunkle Materie und damit setzt sich die (normale plus dunkle) Materie im Universum zu 84% aus Dunkler Materie zusammen. 68% der Gesamtdichte sind die Dunkle Energie, die für die beschleunigte Expansion des Universums verantwortlich ist (Abb. 1).

Die Dunkle Materie verhält sich unter dem Einfluss der Gravitation ähnlich wie normale Materie. Wie der Name sagt, ist diese Form von Materie aber „dunkel“, d. h., sie ist weder im sichtbaren noch im Radio- oder Röntgenbereich sichtbar. Verschiedenste astronomische und kosmologische Beobachtungen weisen aber indirekt auf die Existenz von Dunkler Materie hin, wie Umlaufgeschwindigkeiten von Sternen um das Zentrum von Galaxien, Kollisionen von Galaxienhaufen, kinetische Energie von Galaxien in Galaxienhaufen oder statistische Eigenschaften der Temperaturfluktuationen der kosmischen Hintergrundstrahlung.

Der theoretisch am besten motivierte Kandidat für die Dunkle Materie ist ein Teilchen, das zusätzlich zur Gravitation auch noch an einer weiteren Wechselwirkung teilnimmt, vergleichbar mit der schwachen Kernkraft. Man nennt diese Teilchen Weakly Interacting Massive Particles (WIMPs). Sie werden auch in (aus anderen Gründen notwendigen) Erweiterungen des Standardmodells der Teilchenphysik vorhergesagt (siehe Theorie-Abschnitt) und in thermischen Prozessen im frühen Universum automatisch in der richtigen Anzahl produziert. Diese sogenannte WIMP-Koinzidenz kann als eine weitere Motivation für WIMP-Teilchen gesehen werden. Charakteristische Wechselwirkungskonstanten erlauben für WIMP-Teilchen Massen im Bereich von 10 bis 10000 GeV/c2; zum Vergleich: Das Proton hat eine Masse von ungefähr 1 GeV/c2.

Alle bisherigen Hinweise auf Dunkle Materie beruhen auf Gravitationseffekten, die keine Einsichten in die postulierte schwache Wechselwirkung von WIMP-Teilchen liefern. Zur Klärung dieser spannenden Frage ist es daher entscheidend, die WIMP-Hypothese durch einen direkten experimentellen Nachweis zu verifizieren. Laufende und geplante Experimente, wie XENON100 oder das XENON1T-Projekt, sollen dies leisten.

Das XENON100-Experiment und das XENON1T-Projekt

Die grundlegende Idee bei XENON100 beruht darauf, dass die aus dem Universum vorbeiströmenden Dunkle-Materie-Teilchen in einem Detektor gelegentlich elastisch an Kernen streuen. Der verursachte Kernrückstoß regt dabei das Detektionsmedium an, was zu messbaren Signalen führt. Im XENON100-Experiment ist die innere, zylindrische Detektionskammer (genannt TPC – Time Projection Chamber) mit 62 kg flüssigem Xenon gefüllt. Über die Länge der Kammer liegt zudem ein elektrisches Feld an. Auf diese Weise kann sowohl unmittelbar ausgesandtes Szintillationslicht (S1) als auch ein durch Ionisation erzeugtes Ladungssignal (S2) ausgelesen werden (Abb. 2). Beide Signalformen werden von Lichtsensoren am oberen und unteren Ende der Driftkammer registriert. Ebenso werden sie dazu benutzt, um den Ort der Interaktion bis auf wenige Millimeter genau zu bestimmen. Das gemessene Verhältnis von Ladungs- und Szintillationslicht unterscheidet sich für die verschiedenen Wechselwirkungsarten eindringender Strahlung und Teilchen. Diese Eigenschaft erlaubt es, zwischen dem Hauptuntergrund aus ionisierender Gamma- und Beta-Strahlung und dem erwarteten Signal aus neutralen Kernstößen durch Dunkle-Materie-Teilchen zu unterscheiden.

Das Experiment selbst befindet sich im italienischen Untergrundlabor LNGS (Laboratori Nazionali del Gran Sasso) unter ca. 1400 m Bergmassiv, das den Detektor vor dem Einfluss der kosmischen Strahlung schützt. Zusätzlich hat das Experiment eine mehrschichtige Abschirmung aus Blei, Polyethylen und Kupfer, die das Eindringen von Strahlung aus radioaktiven Zerfällen sowie von Neutronen verhindert. Alle Baumaterialen des Detektors wurden vorher sorgfältigst selektiert, um eine sehr niedrige Eigenkontamination mit radioaktiven Spurenelementen zu erzielen. Das eingesetzte Xenon wurde zusätzlich destilliert, um kleinste Mengen des radioaktiven Kryptonisotops 85Kr aus dem Nachweismedium zu entfernen. Mit dieser Methode gelang es, die Kryptonkonzentration auf gerade einmal ~1 ppt (1 part per trillion, d. h. ein Kryptonatom kommt auf 1012 Xenonatome) zu senken.

Während der Datennahmephase wird der Detektor regelmäßig mit verschiedenen Quellen kalibriert, um die zeitliche Stabilität aller wichtigen Funktionsparameter zu überprüfen sowie die Energieskala für die verschiedenen Wechselwirkungsarten abzuleiten [1]. An der Auswertung und Modellierung der Daten zur besonders wichtigen Eichung von neutralen Kernrückstößen war die Gruppe des Max-Planck-Instituts für Kernphysik (MPIK) maßgeblich beteiligt.

Im Jahr 2012 wurden die Ergebnisse zur Dunkle-Materie-Suche aus dem bisher längsten Datensatz von 225 Tagen effektiver Messdauer veröffentlicht. Die Analyse basiert auf 34 kg flüssigem Xenon aus dem Detektorinneren, in dem die Untergrundrate besonders gering ist. Trotz der bis dato unerreicht niedrigen Untergrundrate zeigte sich kein messbarer Anteil an Ereignissen, die auf Streuprozesse von Dunkler Materie zurückzuführen wären. Infolge dieser Nullmessung konnte damals die sensitivste Ausschlussgrenze von 2,0×10-45 cm2 für den spin-unabhängigen Wechselwirkungsquerschnitt von WIMPs mit gewöhnlichen Atomkernen, bei angenommener WIMP-Masse von 55 GeV/c2, abgeleitet werden [2]. Ebenso ließ sich das Auftreten von spin-abhängiger Wechselwirkung weitreichend ausschließen [3]. Diese Resultate widersprechen vorhergehenden Hinweisen anderer Experimente, die vermeintliche Hinweise auf das Auftauchen von Dunkle-Materie-Signalen beobachtet hatten. Die Schlussfolgerungen der XENON-Kollaboration wurden inzwischen durch eine unabhängige Messung des LUX-Experimentes bestätigt [4]. Damit bleibt die Spurensuche nach Dunkler Materie bisher unvollendet, aber es wurde auch nur ein Teil des erwarteten Parameterraums abgesucht. Daher hat das XENON1T-Experiment, das derzeit unter maßgeblicher Beteiligung des MPIK aufgebaut wird, bei seiner Entdeckungsreise in noch unerschlossene Gebiete der vorausgesagten WIMP-Materie-Wechselwirkung ein sehr gutes Entdeckungspotenzial [5].

XENON1T wird auf dem gleichen Prinzip wie XENON100 beruhen, aber zur Analyse eine deutlich größere Detektormasse von circa einer Tonne haben. Insgesamt werden dabei mehr als drei Tonnen flüssiges Xenon verwendet, die sich zur Abschirmung von Störstrahlung inmitten eines mit Lichtsensoren ausgestatteten Wassertanks befinden. Der Wassertank ist bereits so groß ausgelegt, dass er sogar noch das geplante Upgrade von XENON1T – das XENONnT-Projekt – wird aufnehmen können.

Ultrareine Materialien

Um dieses Ziel zu erreichen, beschreitet XENON1T in vielerlei Hinsicht technologisches Neuland (Abb. 3). Dies betrifft zum Beispiel die verwendeten Lichtsensoren, sogenannte Photoelectron Multiplier Tubes (PMTs). Neben einer hohen radioaktiven Reinheit müssen diese Detektoren in flüssigem Xenon bei tiefen Temperaturen von bis zu -100°C zuverlässig arbeiten und sensitiv für die ultraviolette Szintillationsstrahlung von Xenon sein. PMTs, die all diese Eigenschaften besitzen, werden von der japanischen Firma Hamamatsu hergestellt und am MPIK ausgiebig getestet. Besonderes Augenmerk lag auf der Vermeidung von Radioaktivität. Alle Bestandteile des PMTs wurden einzeln untersucht und nur die saubersten zu ihrem Bau verwendet.

Hierzu dienten unter anderem die weltweit empfindlichsten Messgeräte zum Nachweis von Gamma-Strahlung, die am MPIK entwickelten und im Gran-Sasso-Labor betriebenen GeMPI-Spektrometer. Diese spielen beim Bau von XENON1T eine wichtige Rolle, denn im Prinzip kann bereits eine einzige unreine Schraube den Erfolg des Experiments beeinträchtigen. Es werden auch andere Verfahren zur Spurenanalytik eingesetzt, insbesondere die 222Rn-Emanationstechnik, die dank hochreiner miniaturisierter Proportionalzählrohre eine Nachweisgrenze von nur 5 bis 10 Atomen des Isotops 222Rn erreicht. Als Edelgasisotop mit einer relativ langen mittleren Lebensdauer von 5,52 Tagen kann 222Rn auch von weiter entfernten Bereichen bis ins Innere des Detektors gelangen. Deshalb müssen auch alle Komponenten außerhalb des eigentlichen Detektors (Kryogenes System, Xenon-Reinigungskreislauf) auf ihre Radon-Emanation überprüft werden, wobei insgesamt nur circa 1000 222Rn-Atome in 3 Tonnen flüssigem Xenon erlaubt sind.

Daneben ist das anthropogene Radionuklid 85Kr das zweite problematische Edelgas-Isotop für XENON1T. Da Krypton aber hauptsächlich stabile Isotope besitzt, gelingt sein empfindlichster Nachweis mithilfe der Massenspektrometrie. Xenon wird aus der Luft gewonnen und enthält auch immer kleine Spuren von Krypton und damit 85Kr. Für XENON1T muss der Kryptongehalt auf ein Niveau unter ein ppt gedrückt werden. Dies geschieht durch Kryo-Destillation des Xenons in einer eigens dafür entwickelten Destillationssäule. Der Nachweis einer so geringen Restkonzentration erfordert zusätzlich gaschromatographische Trennverfahren. Am MPIK wurde kürzlich so ein Aufbau realisiert, der sogar eine Nachweisgrenze von nur 0,008 ppt hat [6].

Trotz gründlicher Materialselektion wird 222Rn wohl auch in Zukunft eine große Herausforderung bleiben. Am MPIK arbeitet man deshalb an einer Anlage zur kontinuierlichen Entfernung von Radon aus Xenon. Allerdings macht die große Ähnlichkeit von Radon und Xenon eine Trennung der beiden Gase schwierig. Die Radon-Reinigungsanlage wird entweder analog zur Krypton-Reinigung ein Destillationsverfahren verwenden oder auf dem Prinzip der Gas-Adsorption an ausgewählten porösen Substanzen beruhen.

Wenn die Sensitivität eines führenden Experiments in der Grundlagenforschung um mehr als eine Größenordnung verbessert werden soll, sind immer zahlreiche neue Herausforderungen zu meistern. Die XENON1T-Kollaboration zielt auf eine hundertfache Verbesserung und hat daher mit den dazu notwendigen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten bereits vor einigen Jahren begonnen. Inzwischen sind Wassertank und Servicegebäude fertiggestellt. Die Konstruktionsphase von XENON1T wird bis Ende des Jahres 2014 weiterlaufen, so dass die Messung im Jahr 2015 beginnen kann.

Theorie

Vom Standpunkt der Elementarteilchenphysik stellt sich die Frage, woraus die Dunkle Materie besteht, weil keines der bekannten Teilchen im Standardmodell der Teilchenphysik die benötigten Eigenschaften hat. Dunkle Materie erfordert daher eine Erweiterung des Standardmodells, die aber aus verschiedenen Gründen sowieso erforderlich ist und wonach zum Beispiel intensiv am Large Hadron Collider (LHC)/CERN in Genf gesucht wird. Es gibt verschiedene theoretische Richtungen wie etwa Supersymmetrie oder zusätzliche Raum-Zeit-Dimensionen. Interessanterweise sagen viele dieser Erweiterungen sowieso die Existenz neuer Teilchen voraus, die passende Eigenschaften haben, um Dunkle Materie zu sein. WIMPs sind daher auch aus dieser Perspektive sehr attraktiv. Sie müssen stabil (langlebig) sein und mit den bekannten Teilchen nur über eine Kraft wechselwirken, deren Stärke der schwachen Kernkraft ähnlich ist. Typischerweise haben solche Teilchen eine Masse vergleichbar mit der des kürzlich am CERN entdeckten Higgs-Teilchens.

Die postulierte Wechselwirkung ermöglicht einen sehr einfachen Mechanismus, Dunkle Materie im frühen Universum durch thermische Prozesse bei den extremen Temperaturen kurz nach dem Urknall zu produzieren. Der beobachtete Dunkle-Materie-Dichteanteil erlaubt es dann, die Stärke der Wechselwirkung vorherzusagen. Diese Wechselwirkung führt wiederum zu konkreten experimentellen Signaturen, die einen Nachweis der Dunklen Materie jenseits gravitativer Effekte ermöglichen: (1) Das WIMP kann in Beschleunigern wie am CERN produziert werden. (2) In Regionen hoher Dunkle-Materie-Konzentration (z. B. im galaktischen Zentrum) kommt es zur Selbstannihilation von WIMPs, was zu spezifischen Signalen in der hochenergetischen kosmischen Strahlung führt. (Danach wird z. B. mit dem High Energy Stereoscopic System, H.E.S.S., gesucht). (3) Dunkle-Materie-Teilchen streuen direkt an Atomkernen, wonach das XENON100-Experiment sucht.

Trotzdem sind WIMPs nicht der einzige Kandidat für Dunkle Materie und man kennt verschiedene Alternativen. Eine Möglichkeit wäre ein sogenanntes steriles Neutrino mit Massen im keV-Bereich. Dieses Teilchen ist verwandt mit den bekannten Neutrinos des Standardmodells, hat allerdings eine um viele Größenordnungen schwächere Wechselwirkung mit normaler Materie und die Masse dieses Teilchens ist viele Größenordnungen kleiner als die typische WIMP-Masse. Ein weiterer Kandidat für Dunkle Materie ist das sogenannte Axion, ein Teilchen, das man benötigt, um die Abwesenheit von CP-Verletzung (Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie) in der starken Kernkraft zu erklären. Hierbei handelt es sich um ein ultraleichtes Teilchen, und die Dunkle Materie wird erklärt durch ein Kondensat dieses Teilchens, das das Universum ausfüllt. Im Vergleich zu WIMPs sind derartige Teilchen aber deutlich schlechter motiviert und sie führen zu völlig anderen experimentellen Signaturen.

Weil WIMPs aufgrund einer Reihe von Argumenten die nächstliegende Lösung darstellen, lohnt sich die Suche nach ihnen. Laufende und neue Experimente wie XENON1T haben daher ein großes Entdeckungspotenzial, weil sie in diesem Jahrzehnt den gesamten Parameterraum absuchen werden (s. Abb. 4). WIMPs sollten daher gefunden werden – sofern sie wie erwartet die Dunkle Materie sind. Daher sprechen Experten auch vom Jahrzehnt der WIMPs. Falls die Suche nach WIMPs aber erfolglos bleiben sollte, würden andere Kandidaten an Attraktivität gewinnen. Beide Möglichkeiten öffnen so oder so spannende und sehr weitreichende Einblicke in die Natur der Dunklen Materie und in grundlegende physikalische Gesetze.

Literaturhinweise

Aprile, E. et al., [XENON100 Collaboration]
Response of the XENON100 Dark Matter Detector to Nuclear Recoils
Physical Review D 88, 012006 (2013)
Aprile, E. et al., [XENON100 Collaboration]
Dark Matter Results from 225 Live Days of XENON100 Data
Physical Review Letters 109, 181301 (2012)
Aprile, E. et al., [XENON100 Collaboration]
Limits on spin-dependent WIMP-nucleon cross sections from 225 live days of XENON100 data
Physical Review Letters 111, 021301 (2013)
Akerib, D. S. et al. [LUX Collaboration]
First results from the LUX dark matter experiment at the Sanford Underground Research Facility
arXiv:1310.8214 (2014)
Aprile, E. et al. [XENON1T Collaboration]
The XENON1T Dark Matter Search Experiment
arXiv:1206.6288 (2012)
Lindemann, S.; Simgen, H.
Krypton assay in xenon at the ppq level using a gas chromatographic system combined with a mass spectrometer
The European Physical Journal C 74, 2746 (2014)


Grothaus, P.; Lindner, M.; Takanishi, Y.
Naturalness of Neutralino Dark Matter
Journal of High Energy Physics 1307 (2013) 094
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