Forschungsbericht 2013 - Max-Planck-Institut für Psychiatrie
Kindesmisshandlung beeinflusst die Gene nachhaltig
Kindesmisshandlung und epigenetische Veränderungen
Kindesmisshandlung ist ein vieldiskutiertes Problem, das enorme Auswirkungen auf die betroffene Person, ihre Familie und die Gesellschaft hat. Misshandelte Kinder weisen nicht nur ein erhöhtes Risiko auf, an Depressionen oder anderen psychischen Beschwerden zu erkranken, sondern sie sind auch anfälliger für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder chronische Lungenerkrankungen [1]. Traumatisierende Erfahrungen in der Kindheit verändern also nicht nur das neurobiologische System und die Psyche, sondern haben auch Effekte auf zahlreiche Organsysteme. Besonders das Immunsystem scheint durch epigenetische Mechanismen – Modifikationen der Gene – verändert zu werden. Dadurch kann eine lebenslange Anfälligkeit für unterschiedliche Krankheiten entstehen [2].
Schon in früheren Studien konnte gezeigt werden, dass nach traumatischen Erfahrungen in der Kindheit bestimmte Veränderungen der Genexpression und des epigenetischen Profils sowohl im Gehirn als auch im peripheren Gewebe auftreten [3]. Dieses Phänomen und die Auswirkungen auf Zellen des Immunsystems wurden nun am Max-Planck-Institut für Psychiatrie am Beispiel von Patienten untersucht, die an posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) leiden [4].
Was heißt Epigenetik?
Epigenetische Mechanismen regulieren, in welchem Maße Gene abgelesen und somit die gespeicherten Informationen in Proteine und Enzyme umgesetzt werden. Dabei wird nicht die Nukleotidsequenz verändert, sondern spezifische DNA-Abschnitte werden beispielsweise durch chemische Gruppen markiert. Befinden sich diese Markierungen, etwa Methylgruppen, an DNA-Basen in der Nähe eines Gens, dann wird die Aktivität des betroffenen Genabschnittes gehemmt. Werden die Methylgruppen wiederum entfernt, so kehrt sich das Verhalten um und der Genabschnitt kann verstärkt abgelesen werden.
Das epigenetische Muster einer Zelle ist nicht starr, sondern kann sich im Laufe der Zeit verändern (Abb. 1). Solche Veränderungen werden nicht nur durch molekulare Vorgänge in unserem Körper, sondern auch durch Umwelteinflüsse wie Ernährung, Medikamente oder bestimmte Erlebnisse hervorgerufen. Das Epigenom (die Gesamtheit der epigenetischen Markierungen in einer Zelle) wird deshalb auch als das molekulare Gedächtnis für Umwelteinflüsse bezeichnet [5; 6].
Die Posttraumatische Belastungsstörung
Ein traumatisierendes Ereignis ist meist mit Lebensgefahr oder dem Erleben von Demütigung und Hilflosigkeit verbunden. Traumatisierte Personen waren entweder selbst Opfer oder Zeuge von Folter, Krieg, Vergewaltigung, schweren Unfällen oder anderen Gewalterfahrungen und Katastrophen. Negative Lebensereignisse erhöhen stark das Risiko, an Angststörungen oder Depression zu erkranken.
Nach traumatisierenden Erlebnissen entwickeln etwa 20 bis 25 Prozent der Betroffenen eine akute Belastungsreaktion, die in eine posttraumatische Belastungsstörung münden kann.
Im Vergleich zu einer akuten Reaktion treten bei PTBS-Patienten auch mehrere Wochen bis Jahre nach dem traumatischen Ereignis psychische Symptome auf. Charakteristisch sind neben Schlaflosigkeit, nervöser Erregbarkeit oder innerem Rückzug vor allem die Flashbacks. Dabei wird die aufflammende Erinnerung so wahrgenommen, als ob sich das Ereignis im Hier und Jetzt erneut wiederholen würde. Betroffene durchleben immer wieder die mit dem traumatischen Erlebnis verbundene Todesangst oder andere negative Gefühle wie Scham oder Schuld.
Kindesmisshandlung führt zu spezifischen epigenetischen Profilen
In der hier vorgestellten Studie untersuchten Elisabeth Binder und ihr Team, ob Misshandlungen in der Kindheit einen Einfluss auf die Genexpression und das epigenetische Profil von Immunzellen bei Patienten mit PTBS haben [4]. Dazu wurden Blutproben von 169 Personen analysiert, die alle aus einem Viertel der amerikanischen Stadt Atlanta stammten, in welchem hohe Armut und Gewaltbereitschaft herrschten. Die Studienteilnehmer, die jeweils mehrere traumatische Ereignisse durchlebt hatten, wurden in drei Gruppen unterteilt. Der Großteil der traumatisierten Personen (108 Probanden) entwickelte keine PTBS und galt somit als Kontrollgruppe. Bei den weiteren 61 Probanden wurde PTBS diagnostiziert, wobei davon wiederum 32 Personen zusätzlich in ihrer Kindheit Opfer von Misshandlungen gewesen waren.
Zuerst wurde als Abbild der Genregulation das Profil von mRNA-Transkripten in Blutzellen untersucht (Abb. 2). mRNA-Moleküle sind kurze, einsträngige Kopien von Genen. Sie kodieren die Information zur Synthese von Proteinen und Enzymen. Die Anzahl der mRNA-Kopien spiegelt wider, wie häufig ein Gen abgelesen und dessen Information umgesetzt wird – ob das Gen besonders aktiv oder eher inaktiv ist. Im Vergleich zu der traumatisierten Kontrollgruppe waren bei PTBS-Patienten mit Kindesmisshandlung 303 und bei PTBS-Patienten ohne Kindesmisshandlung 244 Gene abweichend reguliert. Sie waren also im Kontrast zu den Genabschnitten der Kontrollgruppe mehr oder minder aktiv. Die abweichend regulierten Gensets der beiden Patientengruppen überschnitten sich überraschenderweise nur in 14 Genen (2 Prozent). Diese geringe Anzahl entsprach allein der statistisch erwarteten Schnittmenge eines Zufallsexperiments.
In einem zweiten Schritt analysierten die Wissenschaftler, ob die abweichende Genregulation durch epigenetische Veränderungen hervorgerufen wurde. Dazu überprüften sie, ob Unterschiede in der DNA-Methylierung mit der beobachteten abweichenden Genexpression korrelierten. Und tatsächlich – bei PTBS-Patienten, die Misshandlungen in ihrer Kindheit erfahren hatten, wurden bis zu zwölfmal so viele Veränderungen der Genexpression durch Unterschiede in der DNA-Methylierung begleitet als bei PTBS-Patienten ohne Kindesmisshandlung. Es konnten also zwischen den beiden Patientengruppen nahezu komplett abweichende molekulare Muster aufgezeigt werden, die auf eine unterschiedliche Biologie von PTBS mit oder ohne Misshandlungserfahrungen in der Kindheit hinwiesen.
Da derartig gravierende Unterschiede bei Genexpression und epigenetischen Markern zwischen beiden PTBS-Patientengruppen zu beobachten waren, wurde zuletzt die Funktion der abweichend regulierten Gene näher betrachtet. Trotz der fast komplett verschiedenen Gengruppen in beiden Patientengruppen, wurden neben weiteren Unterschieden auch einige überlappende Signalwege identifiziert. Darunter befanden sich Signalwege, die Zellüberleben, -entwicklung, -migration und ‑adhäsion oder das Immunsystem beeinflussen. Das heißt, dass durchaus auch gleiche Effekte der Erkrankung auf die Immunzellen wirken könnten.
Gleiche Diagnose – unterschiedliche Biologie – unterschiedliche Behandlung?
Traumatische Ereignisse, die in der Kindheit erlebt wurden, schreiben sich über sehr lange Zeit in den Zellen fest. Nicht nur die Krankheit allein, sondern das gesamte Erleben bis zur Erkrankung scheint eine große Rolle zu spielen.
Bisher werden Patienten mit derselben psychiatrischen Diagnose auch mit den gleichen Therapien – seien es Psychotherapie oder Medikamente – behandelt (Abb. 3). Oft spricht aber nur ein Teil der Patienten beim ersten Behandlungsversuch darauf an und ein relevanter Teil bleibt therapieresistent. Daher werden neue Wege erforscht, Patienten besser zu beurteilen und einzuteilen. Diese Einteilung sollte möglichst nach den tatsächlichen Ursachen der Erkrankung und nicht nur nach den Symptomen geschehen, wie das in anderen medizinischen Fächern der Fall ist. Das vorgestellte Beispiel zeigt, dass Patienten mit derselben Diagnose und denselben Symptomen, aber unterschiedlichen Biographien, klar messbare Unterschiede in ihrem epigenetischen Profil aufweisen.
Für die zukünftige Identifizierung von Biomarkern und die Entwicklung spezifischer Medikamente spielen diese Beobachtungen eine wichtige Rolle. Sie ermöglichen ein besseres Verständnis für Risikofaktoren und biologische Mechanismen psychiatrischer Erkrankungen und helfen, individuelle Diagnose- und Behandlungsstrategien zu entwickeln. Bei der Entwicklung von neuen Therapien können Tiermodelle für PTBS wichtige Dienste leisten [7]. Erfolgversprechende Behandlungskonzepte für PTBS-Patienten werden darüber hinaus an der Trauma-Ambulanz des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie erprobt und angewandt – insbesondere auch bei traumatisierten Soldaten der Bundeswehr [8].