Forschungsbericht 2013 - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik
SHARE: Ein europäisches Forschungsinstrument in turbulenten Zeiten
Aktives Altern, intergenerationale Solidarität und die Krise
Europa steht vor großen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen. Die expliziten Staatsschulden betragen in der EU gegenwärtig nahezu 90 Prozent. Der Schuldenabbau wird sich über einige Jahrzehnte und mehrere Generationen erstrecken. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, da sich auch durch den demografischen Wandel die Zukunftsaussichten jüngerer Menschen verschlechtern. Das daraus resultierende Ungleichgewicht wird zu impliziten Schulden führen, die die expliziten Schulden bei Weitem übersteigen. Diese bestehen darin, dass die Ansprüche der gegenwärtigen Generation auf die in Zukunft auszuzahlenden Renten-, Kranken- und Pflegeleistungen nicht durch die Steuern und Beiträge gedeckt werden, die unter den derzeitigen Gesetzen von der jetzigen und den späteren Generationen gezahlt werden. Um diese doppelte Schuldenkrise in den Griff zu bekommen, wird man in Europa darüber nachdenken müssen, wie ernst „aktives Altern und intergenerationale Solidarität“ zu nehmen sind.
Das Motto „aktives Altern und intergenerationale Solidarität“ für das Europäische Jahr 2012 klang zunächst relativ harmlos. Die doppelte Schuldenkrise hat ihm jedoch eine viel ernstere Bedeutung verliehen. Der hohe Schuldenstand führt dazu, dass das finanzielle Gleichgewicht zwischen den Generationen nicht mehr gegeben ist und dass mehr wirtschaftliche Aktivität geschaffen werden muss, um die Schulden zu begleichen – und das nicht zuletzt durch eine aktivere Rolle der gegenwärtig alternden Generation, unter der die Schulden entstanden sind. So führt das Motto des Europäischen Jahres 2012 zu heftigen Kontroversen wie: Welche Generation wird den Hauptanteil der Belastungen tragen? Wer wird länger arbeiten müssen? Wer wird höhere Steuern zahlen müssen? Wer wird Vermögen aufgrund der Inflation verlieren? Werden die gegenwärtigen Sparmaßnahmen Gesundheit und Langlebigkeit beeinträchtigen? Werden sich unsere Gesellschaften umstellen, ohne den Generationenzusammenhalt zu gefährden?
Europa beobachten: Der Survey of Health, Ageing, and Retirement in Europe
Solche Fragen bedürfen der Analyse auf der Grundlage verlässlicher Daten, ehe vorschnelle Antworten gegeben werden. Das gilt insbesondere, wenn die Fragen emotional aufgeladen und mit politischen Vorurteilen behaftet sind. Viele der grundlegenden ökonomischen, soziologischen und bevölkerungsmedizinischen Fragen sind noch ungeklärt, vor allem die voraussichtlichen Anpassungen menschlichen Verhaltens an die neuen Lebensumstände. SHARE, der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe, ist eine europäische Forschungsinfrastruktur, die am Munich Center for the Economics of Aging am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik koordiniert wird und darauf zugeschnitten ist, solche Fragen zu beantworten.
Seit 2004 erhebt SHARE alle zwei Jahre detaillierte Daten über das Leben älterer Europäer und macht sie der wissenschaftlichen Forschung zugänglich. SHARE ermöglicht es damit Forscherinnen und Forschern weltweit, zentrale Fragen zur Förderung aktiven Alterns und intergenerationaler Solidarität zu beantworten. Diese Fragen lauten zum Beispiel: Unter welchen sozioökonomischen Rahmenbedingungen leben die Menschen im Alter von 50+ in Europa? Wie ist ihr objektiver Gesundheitszustand und wie fühlen sie sich subjektiv im Vergleich dazu? In welche Art von sozialen Netzwerken sind sie eingebettet und inwiefern haben sie am Austausch von intergenerationaler Unterstützung teil? Und schließlich: Wie prägen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen in den europäischen Ländern ihren Lebensverlauf und vor allem ihr Leben in der zweiten Lebenshälfte?
Zudem ermöglichen die SHARE-Daten inzwischen auf einzigartige Weise, die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise auf das Leben der Älteren in verschiedenen europäischen Ländern zu untersuchen. Das „Beobachtungsfenster“, das sich nun von 2004 bis 2012 erstreckt, wurde durch in den Jahren 2008/09 gesammelte Lebensgeschichten ergänzt (SHARELIFE). Diese liefern Hintergrundinformationen bis hin zur gesundheitlichen Befindlichkeit und zum ökonomischen Status im Kindesalter. SHARE und SHARELIFE bieten zusammen eine Fülle von Informationen, die es ermöglichen, die Aktivitäten älterer Menschen in Europa und ihre Reaktionen auf außergewöhnliche Ereignisse wie Krisen besser zu verstehen. Darüber hinaus nimmt SHARE „Solidarität zwischen den Generationen“ als Forschungsgegenstand sehr ernst. Mit der ersten länderübergreifenden Erhebung harmonisierter sozialer Netzwerkdaten führte SHARE unlängst eine bedeutende Neuerung ein, die nun wichtige Erkenntnisse über das soziale Gefüge in Europa liefert.
Die SHARE-Erhebung ist nicht nur multidisziplinär – und insofern bereits ein aufwendiges Unterfangen –, sondern auch multinational angelegt. Die jüngste Ausgabe von SHARE umfasst Informationen von über 80.000 Personen im Alter von 50+ aus 19 verschiedenen Ländern von Nord nach Süd und Ost nach West: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Irland, Israel, Italien, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Schweiz, Schweden, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn. Da die meisten Personen mehrfach befragt werden konnten, wurden bis Ende 2013 fast 230.000 Interviews geführt. SHARE ist zudem eingebettet in ein globales Netzwerk von Alterssurveys: Es gibt einen engen Austausch zwischen SHARE und HRS (U.S. Health and Retirement Study), ELSA (English Longitudinal Study of Ageing) und TILDA (The Irish Longitudinal Study of Ageing) – und es folgten Erhebungen in Korea, Japan, China, Indien und Brasilien dem Modellcharakter SHARE. Gemeinsam wird so eine globale Infrastruktur für die Alter(n)sforschung aufgebaut.
Herausforderungen in Chancen verwandeln
Mit der neuen Open-Access-Publikation Active ageing and solidarity between generations: First results from SHARE after the economic crisis („Aktives Altern und Solidarität zwischen Generationen: Erste SHARE-Ergebnisse nach der Wirtschaftskrise“) werten Forscherinnen und Forscher erstmals die neueste SHARE-Datensammlung von 2010/11 aus. Sie beleuchten die vielfältigen Mikro-Aspekte aktiven Alterns und intergenerationaler Solidarität in Zeiten der auf die Finanzkrise von 2008/09 folgenden doppelten Schuldenkrise. Hauptziel ist, sachliche Hinweise dafür zu liefern, was sich an den Aktivitäten und Lebensumständen älterer Menschen in Europa seit Beginn der Krise verändert hat und inwiefern intergenerationale Solidarität von den Veränderungen betroffen ist.
Die interdisziplinären Ergebnisse umfassen vier wesentliche Bereiche. Zur ökonomischen Situation der Menschen im Alter von 50+ in Europa untersuchen Forscherinnen und Forscher die Auswirkungen der Krise auf Einkommen, Wohlstand und Konsum. Die gegenwärtige Finanzkrise wirkt sich danach auf das Leben vieler, aber keineswegs aller Menschen in Europa aus. Die Folgen sind in manchen Ländern größer als in anderen und sind außerdem je nach Haushalt unterschiedlich. Zum Thema Erwerbstätigkeit und Ruhestand wird in mehreren Abschnitten erörtert, wie sich verschiedene Arbeits- und Ruhestandsmodelle auf die wirtschaftliche Situation, die kognitive Leistung und das Wohlbefinden der Betroffenen auswirken. Die SHARE-Daten ermöglichen auch ein besseres Verständnis davon, dass neben den angenehmen Seiten eines frühen Ruhestandes auch weniger erfreuliche Folgen wie ein beschleunigter Abbau des Bekannten- und Freundeskreises und ein schnellerer Verlust kognitiver Leistungen auftreten. In Aktives und gesundes Altern behandeln die Autorinnen und Autoren eine große Zahl von Gesundheitsthemen. Diese reichen von der Selbsteinschätzung der eigenen Gesundheit, der kognitiven Leistungsfähigkeit und Gebrechlichkeit bis hin zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und stationärer Pflege und der Wahl unterschiedlicher Sterbeorte. Das soll aufzeigen, wie die verschiedenen Gesundheitsindikatoren in den verschiedenen Altersgruppen in Europa mit dem jeweiligen Gesundheitswesen variieren und inwiefern die Wirtschaftskrise das Wohlbefinden älterer Menschen in Europa beeinträchtigt. Im Kapitel über soziale Einbettung und intergenerationale Solidarität im Lebensverlauf liegt der Fokus auf der Erfassung des sozialen Zusammenhalts. Zunächst wird das persönliche Umfeld älterer Menschen im europäischen Vergleich beschrieben – vor allem die sozialen Netzwerke, das heißt die Familien und Freundeskreise, in die sie eingebettet sind –, anschließend beleuchten die Ausführungen die Zusammenhänge zwischen sozialen Netzwerken und weiteren Schlüsselbereichen des Lebens wie Gesundheit und ökonomische Situation. Mit dieser neuen Publikation geht SHARE einen weiteren wichtigen Schritt, um die europäische Politik in besonders turbulenten Zeiten zu unterstützen und die aktuellen politischen Herausforderungen in Chancen zu verwandeln.