Forschungsbericht 2013 - Assoziierte Einrichtung - Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience

Sehen ohne Bewusstsein – was und warum sehen Blindseher?

Autoren
Schmiedt, J. T.; Schmid, M. C.
Abteilungen
DFG Emmy Noether Research Group of Michael Schmid
Zusammenfassung
Patienten mit Schädigungen der primären Sehrinde empfinden sich selbst als blind, sind aber in manchen Fällen dennoch in der Lage, auf visuelle Reize zu reagieren - ohne erklären zu können, warum. Die neuronalen Grundlagen dieses „Blindsehens“, insbesondere inwieweit der Kortex involviert ist, sind noch weitgehend unverstanden. Ein neues Tiermodell und moderne elektrophysiologische Methoden erlauben jetzt ein tieferes Verständnis der zugrundeliegenden neuronalen Aktivität und gewähren Einblicke in ein Phänomen, das unser alltägliches Verständnis davon, was Sehen bedeutet, in Frage stellt.

Visuelle Sehleistungen ohne Bewusstsein

Das „Blindsehen“ ist seit seiner erstmalig dokumentierten Beschreibung im Jahre 1917 bei der Untersuchung von Kriegsverletzten immer wieder Gegenstand der Forschung gewesen [1]. Das Oxymoron „Blindsehen“ wurde später als Begriff von Weiskrantz gewählt, um visuelle Sehleistungen zu beschreiben, die vom bewussten Erleben entkoppelt sind, denn manche Patienten, die sich selbst als vollständig blind empfinden, sind dennoch in der Lage, auf bestimmte visuelle Reize zu reagieren, zum Beispiel können sie auf einem Bildschirm aufblitzende Punkte detektieren. Dieses verwunderliche Phänomen ist gleichermaßen interessant für Ärzte, die sich für Regenerationsvorgänge im Gehirn interessieren, für Biologen und Psychologen, die den neuronalen Gesetzen des Sehens auf der Spur sind, wie auch für Philosophen, die schon seit langer Zeit das Bewusstsein zu erklären suchen. Dabei liegen die neuronalen Grundlagen des Blindsehens noch weitgehend im Dunkeln. Wie kann es sein, dass ein vermeintlich Blinder Leistungen vollbringt, die eigentlich Sehenden vorbehalten sind?

Die klassische Sicht des gesunden Sehvorgangs beinhaltet in erster Linie den Transfer von visueller Information, ausgehend von der Netzhaut im Auge, über den Kniehöcker im Zwischenhirn (Corpus geniculatum laterale) hin zur primären Sehrinde (V1) im hinteren Teil des Gehirns. Von dort aus werden die sensorischen Signale in die visuellen Assoziationsareale der Hirnrinde (Cortex) weitergeleitet und weiterverarbeitet. Hinsichtlich des Blindsehens steht aufgrund von Studien an Menschen mit Hirnverletzungen inzwischen fest, dass es hauptsächlich Schädigungen der primären Sehrinde sind, die zur Ausprägung des Phänomens führen. Dies bedeutet, dass es einen Sehmechanismus geben muss, der jenseits der klassischen Sehbahn parallel und unabhängig von V1 operiert und das Blindsehen zwar ermöglicht, jedoch nicht zu einem bewussten Sinneseindruck führt.

Diskrepanzen zwischen Human- und Tierstudien zur kortikalen Aktivität ohne V1

In früheren Studien über die Folgen von V1-Schädigungen für das visuelle System kam es zu Diskrepanzen zwischen positiven Befunden im Humanbereich, die eine Beteiligung bestimmter kortikaler Assoziationsareale am Phänomen des Blindsehens vermuten ließen, und Negativresultaten aus Tierexperimenten, die zeigten, dass eben jene Strukturen nach V1-Schäden nicht mehr aktiv waren. Besonders kontrovers diskutiert wurden und werden dabei die methodologischen Unterschiede zwischen den Humanstudien und den Tierversuchen. So ist es zum Beispiel unklar, ob die positiven Ergebnisse im Humanbereich unter Verwendung der Kernspintomographie eventuell auf unspezifische Blutflusseffekte zurückzuführen sind, oder aber ob die Kernspintomographie Signale abgebildet hat, die mit traditionellen elektrophysiologischen Einzelzellableitungen meist nicht erfasst wurden, beispielsweise elektrische Feldpotentiale. Andererseits könnte es auch sein, dass die negativen Resultate im Tierbereich durch die Durchführung unter Anästhesie beeinflusst waren.

Unter den Assoziationsarealen im visuellen Kortex herrscht die größte Übereinstimmung hinsichtlich visueller Funktion ohne V1 für das Areal MT, dessen neuronale Aktivität im Normalzustand eng an die Wahrnehmung von Bewegung gekoppelt ist. Sowohl mittels Kernspintomographie (Abb. 1A und B) als auch in elektrophysiologischen Untersuchungen wurden V1-unabhängige Aktivierungen gefunden [2-4]. Allerdings ist immer noch unklar, inwieweit die neuronale Aktivierung dieses Areals tatsächlich ein Korrelat des Blindsehens ist, da auch diese Experimente in anästhesierten Tieren vorgenommen wurden und kein Verhalten beinhalteten.

Ein neues Tiermodell

Hoffnung auf ein besseres Verständnis der neuronalen Grundlagen des V1-unabhängigen Sehmechanismus, der zum Blindsehen führt, kam auf, als es Alan Cowey und Petra Stoerig im Jahr 1995 gelang, ein zuverlässiges Tiermodell des Blindsehens in wachen Makaken zu entwickeln (Abb. 1C) [5]. In mehreren Studien wurden seitdem wesentliche Erkenntnisse zum Verständnis des Blindsehens gewonnen. Versuche unserer Arbeitsgruppe konnten vor kurzem zeigen, dass auch das visuelle Assoziationsareal V4 nach dem Ausfall von V1 immer noch durch visuelle Reize aktiviert werden kann [6]. Im Gegensatz zu einer älteren Studie, die im anästhesierten Tier, dessen primäre Sehrinde inaktiviert worden war, keine neuronalen Antworten in V4 mehr beobachten konnte [7], fanden wir im wachen Tier mit chronischer V1-Schädigung schwache, aber zuverlässige Aktivierungen in V4 (Abb. 2B). Unsere Studie profitierte dabei von neuen elektrophysiologischen Methoden, die es erlauben, dauerhaft von ein und derselben Neuronenpopulation abzuleiten und so durch longitudinale Erhebungen größtmögliche Sensitivität für schwache Signale ermöglichen (Abb. 2A). Interessanterweise waren die Neuronen in V4 besonders sensitiv für sich bewegende Stimuli, sogar stärker als vor der V1-Schädigung. Diese Tatsache korrespondiert mit dem Detektionsverhalten von Blindsehern, die ebenfalls besonders sensibel für sich bewegende Reize sind. Es scheint also so zu sein, dass kortikale Assoziationsareale visuelle Reize auch unabhängig von der klassischen Sehbahn über V1 verarbeiten können und so möglicherweise zum Phänomen des Blindsehens beitragen.

Eine Sehbahn zum Kortex jenseits der primären Sehrinde

Wie nun die visuellen Informationen an V1 vorbei in die Assoziationsareale wie V4 und MT kommen, ist auch noch nicht vollständig verstanden. Klar ist, dass der oberen Vierhügelplatte (Colliculus superior) im Dach des Mittelhirns eine zentrale Bedeutung zukommt, denn: Das Blindsehen von Makaken wird eliminiert, wenn zusätzlich zu V1 auch der Colliculus zerstört wird [8]. Wie nun die Information vom Colliculus in den Assoziationscortex übersetzt wird, war lange Zeit Teil vieler Spekulationen. Unsere Untersuchungen haben nun gezeigt, dass auf dem Weg zum Assoziationskortex dem Corpus geniculatum laterale eine entscheidende Bedeutung zukommt [9]. War dieser Kern inaktiviert (Abb. 3A), so konnten kernspintomographisch keine Signale mehr im Assoziationskortex gemessen werden (Abb. 3B), und die Affen waren für den Zeitraum der Inaktivierung komplett blind (Abb. 3C). Diese Ergebnisse zeigten also, dass das Corpus geniculatum laterale für das Blindsehen von zentraler Bedeutung ist.

Es bleiben jedoch entscheidende Fragen bestehen: Kommt das Eingangssignal für das Corpus geniculatum laterale aus dem Colliculus oder direkt von der Netzhaut? Im Geniculatum gibt es drei verschiedene Zellgruppen, die zum Kortex projizieren: Welche dieser Systeme erklären die Antworten in den Assoziationsarealen und das Blindsehen? Wichtig zu klären ist auch die Funktion der Projektionen vom Corpus geniculatum laterale in den Assoziationskortex im gesunden Gehirn. Welche Rolle spielen sie für normale Sehleistungen, wenn sie keine bewusste Wahrnehmung vermitteln? Da diese Projektion den Weg über V1 spart, ist es attraktiv zu spekulieren, dass sie für schnelle Aufmerksamkeitsprozesse, zum Beispiel das Detektieren einer sich plötzlich nähernden Gefahr, von wesentlicher Bedeutung ist. Weitere, gezielte Untersuchungen werden helfen, diese und andere, noch völlig offene Fragen zu beantworten.

Literaturhinweise

Cowey, A.
The blindsight saga
Experimental Brain Research 200, 3-24 (2010)
Rodman, H. R.; Gross, C. G.; Albright, T. D.
Afferent basis of visual response properties in area MT of the macaque. I. Effects of striate cortex removal
The Journal of Neuroscience 9, 2033-2050 (1989)
Zeki, S.; Ffytche, D. H.
The Riddoch syndrome: insights into the neurobiology of conscious vision
Brain 121, 25-45 (1998)
Azzopardi, P.; Fallah, M.; Gross; C. G.; Rodman, H. R.
Response latencies of neurons in visual areas MT and MST of monkeys with striate cortex lesions
Neuropsychologia 41, 1738-1756 (2003)
Cowey, A.; Stoerig, P.
Blindsight in monkeys
Nature 373, 247-249 (1995)
Schmid, M. C.; Schmiedt, J. T.; Peters, A. J.; Saunders, R. C.; Maier, A.; Leopold, D. A.
Motion-sensitive responses in visual area v4 in the absence of primary visual cortex
The Journal of Neuroscience 33, 18740-18745 (2013)
Girard, P.; Salin, P. A.; Bullier, J.
Visual activity in macaque area V4 depends on area 17 input
Neuroreport 2, 81-84 (1991)
Mohler, C. W.; Wurtz, R. H.
Role of striate cortex and superior colliculus in visual guidance of saccadic eye movements in monkeys
Journal of Neurophysiology 40, 74-94 (1977)
Schmid, M. C.; Mrowka, S. W.; Turchi, J.; Saunders, R. C.; Wilke, M.; Peters, A. J.; Ye, F. Q.; Leopold, D. A.
Blindsight depends on the lateral geniculate nucleus
Nature 466, 373-377 (2010)
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