Der Pirat in der Mikrobe
Bakterien bewegen sich nicht rein zufällig, wenn sie die Oberfläche von Wirtszellen auskundschaften
Piraten könnten die Technik, mit der sie Schiffe kapern, bei Bakterien abgeschaut haben. Wie die Freibeuter ihr Boot mit Enterhaken an ein Beuteschiff heranziehen, verwenden die Einzeller filigrane Stäbchen – Biologen sprechen von Pili –, um über eine Oberfläche zu kriechen. Für ihre Bewegung hat ein Forscherteam des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam-Golm und der Universität Köln nun anhand von Experimenten ein Modell entwickelt. Schon länger wissen Biologen, dass sich die Pili an den Untergrund heften und dass sich die Mikroben an ihnen entlang ziehen, wobei sie sich die Stäbchen wieder einverleiben. Manche Mikroben wie etwa Neisseria gonorrhoeae, der Erreger der Gonorrhö, strecken ihre Pili jedoch in alle Richtungen aus. Daher hängt ihr Weg auch davon ab, welcher Pilus gerade den stärksten Zug ausübt. Die Wissenschaftler können nun erklären, warum die Bakterien dennoch zumindest für ein bis zwei Sekunden geradeaus wandern. Eine detaillierte Kenntnis dieses Mechanismus verbessert das Verständnis, wie Bakterien Zellen infizieren und könnte auch Ansatzpunkte liefern, diese zu bekämpfen.
Wenn Piraten in eine Lage gerieten, die mit der Fortbewegung von Neisseria gonorrhoeae vergleichbar wäre, würde man ihnen wohl bald das Handwerk legen. Dann wären sie rundherum von Marineschiffen umzingelt. Und wenn sie nun im Angriff die beste Verteidigung suchten, entwickelte sich die Situation vollends zur Farce. Statt zielstrebig das schnellste Schiff zu übernehmen und damit die Flucht zu ergreifen, würden die Freibeuter erst einmal eine Art Tauziehen austragen, an welches Boot sie sich mit ihren Enterhaken heranziehen sollen. So ähnlich bewegt sich jedenfalls N. gonorrhoeae etwa auf der Oberfläche einer Wirtszelle.
Durch ein Tauziehen mit zufälligem Ausgang entscheidet das Bakterium nämlich, welche Richtung es nimmt, um mit Artgenossen eine Kolonie zu bilden oder den besten Zugang in die Zelle zu suchen. Doch wie Wissenschaftler um Stefan Klumpp, der eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung leitet, und Berenike Maier, die mit ihrem Team an der Universität Köln forscht, jetzt herausgefunden haben, irren die Mikroben nicht ganz so zufällig durch die Gegend, wie demnach eigentlich zu erwarten wäre.
Die Bakterien machen gewissermaßen größere Schritte als auf einem allein vom Zufall bestimmten Weg, wenn sie eine Oberfläche auskundschaften. Auf diese Weise können sie ihre Umgebung rascher abtasten und einen Ort ausfindig machen, an dem sie in eine Wirtszelle eindringen können, oder andere Bakterien aufspüren, um mit diesen eine Kolonie zu gründen.
Das Modell des eindimensionalen Tauziehens lässt sich nicht einfach erweitern
Nicht nur die Richtungsentscheidungen mancher Bakterien fallen in einem biologischen Tauziehen. So bestimmen Zellen auch etwa die Frage, wohin sie Enzyme und andere Biomoleküle transportieren. Zudem entsteht der Spindelapparat, an dem entlang bei der Zellteilung die Chromosomen aufgeteilt werden, in einer Art intrazellulärem sportlichen Wettbewerb. Meistens geht es beim Tauziehen in der Zelle um Bewegungen in zwei entgegengesetzte Richtungen, so wie es Mannschaften auch seit der Antike praktizieren. Diesen eindimensionalen Fall verstehen Biophysiker auch bereits sehr gut. Anders als den Weg von Neisseria gonorrhoeae. „Bislang gab es nur ein Modell für ein eindimensionales Tauziehen in Zellen“, sagt Stefan Klumpp. „Wenn wir dieses Modell einfach in zwei Dimensionen erweitern, decken sich die theoretischen Vorhersagen nicht mit dem experimentell beobachteten Verhalten der Bakterien.“
Beim eindimensionalen Tauziehen entscheidet ausschließlich der Zufall, welche Seite die Oberhand behält und in welche Richtung eine Fracht transportiert wird. Auf zwei Dimensionen übertragen, hieße dies, dass N. gonorrhoeae ständig die Richtung wechseln müsste, wenn es sich an einem seine Bio-Enterhaken ein Stück vorwärts gezogen und diesen dabei wieder aufgespult hat. „In unseren Experimenten beobachten wir aber, dass das Bakterium für mehr als eine Piluslänge die Richtung beibehält“, sagt Berenike Maier, die den experimentellen Teil der Studie an der Universität Köln leitete. Sie und ihre Kollegen ließen die Einzeller auf proteinbeschichteten Glasplättchen kriechen. Zudem beobachteten sie, wie die Bakterien mit ihren Pili mit erstaunlich großer mechanischer Kraft winzige Kügelchen aus dem Fokus einer Laserpinzette zerrten.
Mechanische Erinnerung an die Bewegungsrichtung
Entsprechend der experimentellen Ergebnisse entwickelten Stefan Klumpp und seine Mitarbeiter ein Computermodell, das die Wege der Bakterien realistisch erfasst. „Wir haben zwei Mechanismen identifiziert, die dem Bakterium ein Erinnerungsvermögen für die Richtung geben, in der es sich gerade bewegt“, sagt der Wissenschaftler. „Wenn wir diese in unserem Modell berücksichtigen, gibt es das experimentell beobachtete Verhalten sehr gut wieder.“
Gemeinsam mit Alexander Schmidt, der am Zentrum für Molekularbiologie der Entzündung der Universität Münster forscht, fanden die Wissenschaftler heraus, dass ein Bakterium zum einen Bündel von zwei oder drei Pili in eine Richtung ausfährt. So steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich beim bakteriellen Tauziehen nacheinander mehrere Pili durchsetzen, die den Einzeller in ein und dieselbe Richtung ziehen. Die Chancen dafür erhöhen sich zum anderen, weil die Bakterien an einer Stelle, an der sie gerade einen Pilus eingeholt haben, gleich wieder eins mit derselben Orientierung von sich strecken können. Dafür sorgt ein Proteinkomplex, der an der entsprechenden Position der Zellwand sitzt und immer wieder einen der bakteriellen Enterhaken aus dessen Bestandteilen zusammensetzt und mit derselben Stoßrichtung aus der Zelle schiebt, wenn er gerade wieder einen zurückgezogen hat. „Die Erinnerung für die Bewegungsrichtung von Neisseria gonorrhoeae beruht also auf rein mechanischen Prozessen“, sagt Berenike Maier.
Aus dem Verständnis der Bewegung könnten sich therapeutische Ansätze ergeben
Die Forscher vermuten, dass andere Bakterien ihre Schrittlänge auf ähnliche Weise vergrößern – zumindest solche mit einer eher runden Gestalt, die Pili in alle Richtungen bilden. Längliche Mikroben fahren ihre Fortbewegungsmittel dagegen nur an ihren beiden Enden aus und steuern ihren Weg biochemisch. Biochemische Signale spielen jedoch auch bei der Bewegung von N. gonorrhoeae eine Rolle: „Vermutlich bewirken biochemische Signale der Wirtszelle, dass das Bakterium an einer möglichen Stelle für die Infektion seine Schrittlänge verkürzt“, sagt Stefan Klumpp. So bilden die Einzeller seltener Minibündel und verhindern auf diese Weise, dass sie am Einfallstor in die Zelle vorbei kriechen.
Ein genaues Verständnis, wie sich infektiöse Mikroben mithilfe ihrer Pili fortbewegen, könnte auch medizinische Bedeutung haben. So ergeben sich daraus womöglich Ansatzpunkte für neue Antibiotika. Denn nur wenn die Erreger ihre Enterhaken in gewohnter Manier einsetzen können, gelingt es ihnen, eine Wirtszelle zu kapern.
PH