Forschungsbericht 2004 - Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut
Die Zirkulation von Artefakten im Mittelmeerraum bis zum 15. Jahrhundert: Das Mandylion von Genua und sein paläologischer Rahmen
Als Mandylion bezeichnet man ein „wahres Bild“ Christi, das in der byzantinischen Welt hoch verehrt wurde. Das Original war der Legende nach keine Ikone, sondern ein nicht von Menschenhand geschaffenes Tuch (mandylion ist ein griechisch-arabisches Wort für ein kleines Stück Stoff), auf welchem der Abdruck der Gesichtszüge Christi zu sehen war. Das Mandylion von Genua ist ein komposites Artefakt, das im späten 14. Jahrhundert vom kaiserlichen Hof in Konstantinopel nach Genua gelangte, und zwar als diplomatisches Geschenk oder als Kreditunterpfand des Kaisers an einen Genoveser Capitano. Bei diesem handelt es sich um Leonardo Montalto, der das geschwächte byzantinische Reich militärisch und finanziell unterstützte. Später wurde er zum Dogen der Seerepublik gewählt und vermachte den kostbaren Schrein dem Kloster armenischer Mönche San Bartolomeo in der Stadt. Dort befindet er sich noch heute. Es ist faszinierend, dass der Blick auf ein einzelnes Objekt eine weite Perspektive auf den kulturellen, religiösen wie künstlerischen Austausch im Mittelmeerraum vom 6. bis 14. Jahrhundert eröffnen kann. Einige Aspekte seien im Folgenden in Form einer „Archäologie“ des Genueser Mandylion vorgestellt, welches der Forschung in jeder Hinsicht schwer zu lösende Rätsel aufgibt.
Von außen nach innen betrachtet, ist das Mandylion von Genua (Abb. 1) wie folgt zusammengesetzt: Ein barocker Rahmen umschließt ein reiches, byzantinisches Rahmenwerk des 14. Jahrhunderts (28,2cm x 34cm). Dieses wiederum inszeniert ein verdunkeltes Christusbild, bei dem es sich um eine schwer zu datierende Kopie (Leinwand auf Holz) des Urbildes des Mandylions handelt, das sich von 944 bis etwa 1240 im Kaiserpalast in Konstantinopel befand. Auf der Rückseite der Holztafel finden sich zwei kostbare Stoffe: zunächst ein Stofffragment des 10. Jahrhunderts, darüber ein Genueser Textil des 16. Jahrhunderts.
Im Rahmen der Vorbereitungen zur Ausstellung „Mandylion: Intorno al Sacro Volto, da Bisanzio a Genova“ wurden die einzelnen Bestandteile des Mandylions technogisch untersucht. Rahmenholz und Bildtafel konnten mittels einer Radiokarbon-Analyse datiert werden. In den Räumen des Diözesanmuseums in Genua wurden die Ergebnisse so präsentiert, dass Stoffe, Rahmen und Ikone in einzelnen Räumen je getrennt gezeigt und mit anderen Objekten zum Vergleich kontextualisiert wurden. Sei seien hier in chronologischer Form zusammengefasst.
Die Stoffe
Der älteste Teil ist ein Seidenstoff (23cm x 37cm), der sich aus stilistischen und morphologischen Gründen ins 10. Jahrhundert datieren lässt (Abb. 2). Im 14. Jahrhundert, als der Schrein des Mandylion entstand, verfügte man in Byzanz kaum über eine eigene Seidenindustrie. Man griff auf eigene Sammlungsstücke zurück oder auf süditalienische Produktionen. Im Falle des Genueser Fragments handelt es sich um einen alten Stoff mit einem sassanidischen Motiv, das der herrscherlichen Sphäre Persiens entstammt. Dargestellt ist ein geflügeltes Pferdewesen in einer Rota. Es gibt ein fast identisches Pendant im State Historical Museum in Moskau, das dieses Motiv in einem größeren Maßstab zeigt. Eine Untersuchung und Ausleihe dieses Stoffes war aus konservatorischen Gründen nicht möglich.
Dass man diesen Stoff auf die Rückseite eines Christusbildes aufgeklebt hat, mag zunächst verwundern. In Genua war er im 16. Jahrhundert jedenfalls nicht mehr dem decorum entsprechend und wurde durch einen Brokatstoff überfangen, der ein Granatapfelmotiv zeigt, dem ikonographisch eine eucharistische Bedeutungsebene innewohnt. Grundsätzlich ist aber eine solche Bekleidung eines Verso von Ikonen in Byzanz eine übliche Praxis. Das hybride Fabelwesen kann in diesem Fall auf die Verbindung von göttlicher und menschlicher Natur Christi verweisen, wie wir es im Westen von dem christologisch zu deutenden Greifen in Dantes Göttlicher Komödie (Purg XXX) kennen. Im Übrigen galt ein solcher Stoff im 14. Jahrhundert in Konstantinopel als ein orientalisches Stück und konnte damit auch die Herkunft des Christusbildes aus dem Osten bekräftigen.
Die Ikone und ihre Datierung
Die Ikone selbst (28,7cm x 17,3cm) galt in der Forschungsliteratur bis in die jüngste Zeit als eines der ältesten autonomen Christusbilder überhaupt. Stilistisch ist sie kaum zu fassen, nicht nur wegen der starken Verdunklung der Oberfläche, sondern auch wegen des Versuchs des Malers, sie an ein altehrwürdiges Original anzugleichen. Das Bild steht insofern außerhalb der Kategorien der Ikonenmalerei, auch im Bildformular selbst. Es handelt sich um das isolierte Antlitz Christi mit einem fischförmigen Umriss, der sich aus der Bartspitze und den punktförmigen Enden der Haarbahnen bildet. Diese Darstellungsweise gibt es nur bei einer sehr kleinen Zahl von Bildern, welche den Anspruch erheben, für ein Urbild selbst einzustehen.
Die Legende des Urbildes des Mandylion ist im 6. Jahrhundert im griechischen und syrischen Raum entstanden und spielt zu Lebzeiten Christi. Der am Aussatz erkrankte König Abgar aus Edessa (heute Urfa, im Zweistromland gelegen) soll einen Boten zu Christus nach Jerusalem gesandt haben, um ihn in sein Reich einzuladen. Christus kann diesen Wunsch nicht erfüllen. Der Gesandte versucht darauf, Christus zu porträtieren, was ihm aber nicht gelingen kann, worauf dieser sein Gesicht wäscht und mit einem Tuch trocknet, auf dem der bildliche Abdruck seines Antlitzes zurückbleibt: das Mandylion. In Edessa wird der König durch den Anblick des von dem Boten überbrachten Tuchbildes geheilt. In späteren Jahrhunderten wird es zum Palladium, dem heiligen Schutzgaranten der Stadt, vor allem in den Perserkriegen des 6. Jahrhunderts. Das Mandylion wird im Jahr 944 von Edessa, das heißt von den Grenzen des Reiches in dessen Zentrum überführt, um in der Pharoskapelle des Kaiserpalastes nun gemeinsam mit den Passionsreliquien zum Palladium, zum Schutzgarant des gesamten Reiches zu werden. Mit den großen Plünderungen und dem Ausverkauf der Reliquien während der lateinischen Herrschaft am Bosporus (1204 bis 1261) verschwindet das Mandylion – vielleicht kommt es mit der Dornenkrone in die Sainte Chapelle nach Paris, wo es nur eine marginale Rolle gespielt hätte.
Die griechischen Herrscher kehren in die Stadt mit Hilfe der Genuesen zurück, die auf diese Weise die venezianische Dominanz im östlichen Mittelmeer konterkarieren wollten. Die Verbindungen von Konstantinopel zu Genua bleiben bis zum Fall der Stadt 1453 intensiv, wenn auch mit Unterbrechungen. Die Gabe des Mandylion ist Teil dieser Geschichte. Es bleibt die Frage, wann das Bild selbst geschaffen wurde. Die Radiokarbon-Untersuchung des Holzes weist in die Jahrzehnte von 1240 bis 1280, eine dendrochronologische Datierung war für die Pappelholztafel nicht möglich. Die Spezialfotografien (Infrarot, UV) zeigen einen Zustand des Gemäldes, der das Vorhandensein einer älteren Malschicht mit einer früheren, originalen Ikone ausschließt. Es sind nur restaurierende Übermalungen unterschiedlicher Zeiten und Patinierungen festzustellen.
Als wahrscheinlichste Hypothese bietet sich folgende an: In den Jahrzehnten nach der Rückeroberung der Stadt hat man versucht, das verlorene Mandylion zu rekonstruieren – vielleicht hat man auch mehr als ein Exemplar hergestellt. Hierfür hat man auf ein sanktioniertes Kopierschema zurückgegriffen, und zwar in den originalen Maßen, die ebenfalls zur heiligen Tradition der Bildreliquie gehörten. Dies könnte auch die Beziehung zu den beiden zu einer Ikone zusammengefügten Flügeln eines vormaligen Triptychons im Katharinenkloster am Sinai erklären, deren Mittelstück heute verloren ist, aber den Maßen des Genueser Mandylion entspricht. Die Flügel datieren in die Mitte des 10. Jahrhunderts und zeigen König Abgar mit den Zügen des Kaisers Konstantinos VII. Prophyrogennetos, der das Mandylion aus den Händen des Gesandten empfängt. Vermutlich war das Triptychon eine Gabe dieses Kaisers an das imperiale Kloster am Mosesberg aus Anlass der Translation des Mandylion von Edessa nach Konstantinopel im Jahr 944.
Das Ausstellungsprojekt zielte auf die Begegnung dieses Diptychon vom Sinai mit dem Mandylion von Genua, wobei im Ausgangspunkt auch die Hypothese eines Zusammengehörens nicht völlig auszuschließen war. Das Ergebnis der Begegnung, die sich nach langen Verhandlungen mit dem Kloster und den ägyptischen Antikenbehörden realisieren ließ, ist nicht minder faszinierend. Es handelt sich um die Bewahrung eines heiligen Maßes und einer Bildtradition über die Jahrhunderte, wobei die neue Datierung des „Faksimiles“ ins spätere 13. Jahrhundert ein neues Licht auf die restaurative Phase der Paläologen-Herrscher in Konstantinopel nach der Rückeroberung der Stadt wirft. Karin Krause hat im Ausstellungskatalog den kunsthistorischen Kontext aufgearbeitet und Beispiele für den Transfer von Reliquien und Reliquiarien vom Kaiserhof nach Westen im 14. Jahrhundert untersucht.
Der Rahmen
Die Ansprüche, welche in der Vergegenwärtigung der sakralen und imperialen Tradition in Konstantinopel in der Zeit der Paläologen liegen, werden noch deutlicher, wenn man den aus dem 14. Jahrhundert stammenden kostbaren Rahmen betrachtet, der den Schrein des Genueser Mandylion bildet. Es ist ein Werk von einmaliger künstlerischer und kunsttechnischer Qualität. Dies wiederum macht sein Verständnis im Kontext der byzantinischen Goldschmiedekunst des 14. Jahrhunderts schwierig. Das beginnt mit der Datierung, die in der kunsthistorischen Literatur zwischen 1320 und 1380 schwankt. Die Radiokarbon-Untersuchung des Rahmenholzes weist in die Jahrzehnte von 1360 bis 1420. Terminus ante quem wäre dabei der Zeitpunkt, zu dem das Mandylion nach Genua gelangte, also etwa 1380. Die Frage ist keinesfalls irrelevant, denn es macht einen Unterschied, ob man in Konstantinopel ein im Schatz vorhandenes Objekt nach Genua gibt oder eigens einen kostbaren Rahmen für ein Christusbild schafft, um die Gabe oder das Unterpfand materiell wie künstlerisch aufzuwerten.
Die Kunsthistorikerin Francesca Dell’Acqua hat die außergewöhnliche Technik untersucht. Der Rahmen besteht aus einer inneren Metallplatte aus Goldfiligran, die das Christusbild umschreibt. Sie wird ihrerseits umfangen von einem rechteckigen Rahmen aus vergoldetem Silber auf einem hölzernen Support. Die Dekoration dieses Rahmens wird alternierend aus filigranen Feldern und zehn quadratischen Szenen gebildet , welche in bis dahin ungekannter Ausführlichkeit die Legende des Mandylion von der Heilung König Abgars und der wunderbaren Rettung Edessas in den Perserkriegen bis zur Translation nach Konstantinopel im Jahr 944 darstellen. Diese Szenen sind in einer raffinierten Mischtechnik gearbeitet: Durch Email- beziehungsweise Niello-Einlagen in schmalen, getriebenen Kanälen entstehen Farb- und Lichteffekte im Wechselspiel mit den vergoldeten Reliefs, wie sie in anderen Werken kaum zu finden sind. Die Singularität der Komposition des Rahmens, der Einbettung der Szenen in das filigrane Ornament und die Narrationsstruktur wurde im Vergleich mit den Objekten der parallelen, großen New Yorker Ausstellung zum Byzanz des 14. und 15. Jahrhunderts (Faith and Power) aufs Beste deutlich.
Der Rahmen des Genueser Mandylion verbindet eine politisch-religiöse Dimension mit einer bildtheoretischen. Erstere erschließt sich über die Ordnung der Szenen in zwei Zyklen, deren Paradigma die Reise (von Jerusalem über Edessa nach Konstantinopel) und die Wirkmacht des Bildes in der Geschichte ist. Der erste Teil der Erzählung reicht von links oben nach rechts unten und erzählt die Geschichte der Aussendung des Boten, die Entstehung des Mandylion und die Heilung des Königs. Der zweite Teil setzt in der zweiten Szene der linken Leiste an und endet rechts unten: Hier dominieren die Bischöfe, die das Bild administrieren und damit auch über militärische Gegner siegen. Es zeigt sich also eine klare Differenzierung der Rollen von Kaiser und Kirche. Der Rahmen artikuliert damit auch die relative Stärke der Bischofsmacht im Byzanz des 14. Jahrhunderts und die Hilfsbedürftigkeit der Kaiser. In bildtheoretischer Perspektive zeigt sich der Rahmen selbst als Werk von Menschenhand, als Parergon, das ein vermeintliches Acheiropoieton (ein non-manufactum) umschließt, durch diese Inszenierung gleichsam hervorbringt und damit den Status menschlicher Bildproduktion thematisiert. Der Rahmen zelebriert unter diesen Bedingungen in einem maximalen Aufgebot die künstlerische Energie, wie sie am schönsten in der letzten Szene mit dem auffahrenden, antikisierenden Dämon sichtbar wird, gleichsam einer Personifikation künstlerischer Dynamis.
Insgesamt wird der „Rahmen“ einer sakralen und politischen Geographie aufgespannt, dem die Ausstellung folgte und den sie bis hin zu Genua selbst erweiterte. Ein letzter Aspekt von Projekt und Ausstellung befasste sich mit der neuen Rolle des Mandylion in Genua als Palladium der Stadt ab dem 15. Jahrhundert, die sich auf der Basis neuer Quellen und neuer Objektfunde erschließen ließ. Ein internationaler Kongress zu Genua, Byzanz und dem Mittelmeerraum hat diese Aspekte aufgegriffen und weitere Forschungsthemen in ihrem Umfeld erschlossen. Im Übrigen ist das mittelalterliche Genua mit seiner weitgehend intakten Altstadt, seinem reichen Handelsnetz, seiner Kolonie in Pera und vielem mehr immer noch ein wenig erforschtes Gebiet der italienischen Kunstgeschichte.
Das hier resümierte Projekt ist ein erster Schritt in einem weiter gefassten Ansatz, die Geschichte der Zirkulation von Bildern und Bildkonzepten im Mittelmeerraum zwischen Ost und West von den Objekten (und ihren Geschichten) ausgehend zu erforschen. In einem weiteren Schritt soll dies beispielsweise für den Austausch zwischen islamischer und christlicher Sphäre sowie für ihre Kontaktzonen unternommen werden. Weitere Forschungen zum „präkolumbianischen“ Genua werden sich anschließen.