Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik
Quantengravitation und Vereinheitlichung
Wo steht die Quantengravitation heute?
Die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) und dieQuantentheorie lassen sich im Rahmen der bekannten physikalischen Gesetze nicht miteinander vereinbaren. Widersprüche treten zwar erst bei unvorstellbar kleinen Abständen von 10-33 cm zutage, aber wenn wir verstehen wollen, was im Inneren eines schwarzen Loches oder in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall „passiert“, müssen sie aufgelöst werden.
Die Grenzen der Theorien
ART und das Standardmodell der Teilchenphysik (SM) beschreiben physikalische Phänomene über eine gewaltige Entfernungsspanne richtig und sind dennoch unvollständig. Zwar sollen die offenen Fragen in der Teilchenphysik eines Tages mithilfe von Experimenten, wie sie am Large Hadron Collider (LHC) des CERN durchgeführt werden, beantwortet werden. Fragen wie die nach dem Ursprung der Materie-Antimaterieasymmetrie im Universum, oder dem Stoff, aus dem die dunkle Materie besteht. Unklar ist jedoch, ob sich das SM überhaupt für ein über die Störungstheorie hinausgehendes Modell eignet. Auftretende Unendlichkeiten (die sogenannten UV-Divergenzen), die mathematisch aufwendig entfernt werden müssen, weisen darauf hin, dass eine andere und vollständigere Theorie notwendig ist.
Bei der ART zeigt sich ein ähnliches Dilemma: Wie das SM funktioniert auch sie extrem gut in ihrem Anwendungsbereich und hat bisher alle experimentellen Überprüfungen mit Bravour bestanden. Der Nachweis der Gravitationswellen [1] ist das jüngste Beispiel für die Leistungsfähigkeit und Vorhersagekraft von Einsteins Theorie. Dennoch wird die Notwendigkeit einer Theorie ‚über Einstein hinaus‘ durch die Existenz der Raumzeitsingularitäten, wie sie im Inneren Schwarzer Löcher oder beim Urknall auftreten, deutlich: Jeder Beobachter, der den Horizont eines Schwarzen Lochs überschreitet, wird in endlicher Zeit durch die Singularität in seinem Zentrum zerquetscht. Die ART kann dieses Phänomen nicht erklären, was darauf hindeutet, dass die konzeptionellen Grundlagen der Theorie bei solch extremen Umständen in Frage gestellt werden müssen.
Angesichts dieser Probleme gibt es einen breiten Konsens, dass die noch offenen Probleme sowohl der Teilchenphysik wie auch der ART nur durch eine vollständigere und tiefergehende Theorie überwunden werden können, nämlich eine Theorie der Quantengravitation (QG), die ART und Quantentheorie in Einklang bringen kann, und so die Gravitation mit den anderen fundamentalen Wechselwirkungen in der Natur vereinheitlicht.
Gibt es Hinweise in den experimentellen Daten?
Während Quantenmechanik und ART zur Erklärung beobachteter Phänomene entwickelt wurden (z. B. der Spektrallinien in der Atomphysik), gibt uns die Natur sehr wenige Hinweise, wo wir nach einer Theorie der Quantengravitation schauen sollen. Ein Haupthindernis hier ist, dass die Größenordnung der erwarteten Effekte unglaublich klein ist. Maßgeblich ist die Planck-Länge mit etwa 10−33 cm; entsprechend ist die maßgebliche Skala in Bezug auf die Energie etwa 1019 GeV, unglaubliche 15 Größenordnungen über dem Energiebereich, der für den LHC zugänglich ist. Es besteht daher keine Hoffnung, jemals direkt tatsächliche QG-Effekte im Labor zu messen. Man kann jedoch spekulieren, dass sich QG vielleicht indirekt zeigt, etwa in der kosmischen Hintergrundstrahlung oder dadurch, dass sie eine triftige Erklärung für die Inflation, die dunkle Energie und den Ursprung des Universums liefert. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass solche Vorschläge nicht zweifelsfrei zwischen sehr unterschiedlichen Ansätzen unterscheiden können. Beispielsweise, wenn so gegensätzliche Entwürfe wie Stringtheorie und Schleifen-Quantengravitation darum wetteifern, die Eigenschaften des frühen Universums zu erklären.
Wie nähert man sich einer vereinheitlichten Theorie der Quantengravitation?
Ansätze zur QG können grob in zwei Kategorien eingeteilt werden. Die eine basiert auf der Annahme, dass Einsteins Theorie auch dann noch Bestand hat, wenn sie mit der Quantenmechanik konfrontiert wird. Diese Annahme würde implizieren, dass QG im Wesentlichen nicht mehr ist als die nichtstörungstheoretische Quantisierung der Einstein’schen Theorie und dass die ART, bei geeigneter Behandlung und letztendlich Ergänzung durch das SM der Teilchenphysik (oder eine Erweiterung desselben), die physikalischen Freiheitsgrade auch bei den kleinsten Abständen korrekt beschreibt. Aktuelle Ansätze im Rahmen der Schleifen- und Spinschaum-Quantengravitation (LQG: Loop Quantum Gravity) ersetzen die Raumzeitmetrik durch Holonomien und Flüsse als die kanonischen Variablen und versuchen so, die mathematischen Schwierigkeiten zu überwinden.
Die entgegengesetzte Haltung ist, dass die ART nur eine effektive Niedrigenergietheorie ist, die sich aus einer grundsätzlicheren, bislang unbekannten Planck-Skalentheorie ergibt, deren Freiheitsgrade sich sehr von denen der ART oder Quantenfeldtheorie (QFT) unterscheiden. Bei dieser Betrachtungsweise wird angenommen, dass die ART und mit ihr die kontinuierliche Raumzeit aus dieser noch zu findenden Theorie im Limes großer Abstände in ähnlicher Weise „entstehen“, wie sich die makroskopische Physik aus der Quantenwelt der Atome und Moleküle ergibt. Die Notwendigkeit, Einsteins Theorie durch eine andere und fundamentalere Theorie zu ersetzen, ist die Grundhypothese, auf der die Supergravitations- und Superstringtheorie und ihren Verwandten fußen. Dieser Ansatz hat über die Jahre eine Reihe von extrem unterschiedlichen Aktivitäten geboren, die heutzutage mit dem Begriff Stringtheorie assoziiert werden. Eine wichtige Idee, die sich aus diesen Entwicklungen ergab, ist die sogenannte AdS/CFT-Korrespondenz, die bekannteste Realisierung des sogenannten „Holographieprinzips“ [2]. Demnach kann die Physik, die in einem Volumen „stattfindet“, komplett in der Oberfläche verschlüsselt sein, die das Volumen einschließt – wie bei einem Hologramm. Folglich sollte die QG im Volumen zu einer reinen QFT an seinem Rand äquivalent („dual“) sein.
Wie für die Ansätze aus der anderen Kategorie bleiben allerdings wichtige Fragen offen. Eine Hauptunzulänglichkeit betrifft die Hintergrundabhängigkeit der Quantisierungsprozedur, für die sowohl die Supergravitations- wie auch die Stringtheorie auf Störungsentwicklungen um eine vorgegebene Raumzeitgeometrie bauen müssen. Noch fataler ist, dass in der derzeit bekannten Form die Stringtheorie nicht einmal formuliert werden kann, ohne sich auf einen bestimmten Raumzeithintergrund zu beziehen.
Warum überhaupt vereinheitlichen?
Das vielleicht stärkste Argument für die Vereinheitlichung ist, dass die zugrundeliegende Symmetrievergrößerung vermutlich das erfolgreichste Prinzip in der Aufstellung von physikalischen Theorien überhaupt ist: Die Suche nach der Symmetrie hat die Entwicklung der modernen Physik von Maxwells Theorie über ART bis hin zu den Yang-Mills-Theorien und dem SM geführt. Die Hoffnung ist daher, dass man letztendlich die Evolution des Universums von seinem Anfang als eine Kaskade von Symmetriebrechungen verstehen könnte, wo bei jedem Schritt immer mehr der anfänglichen Symmetrie verloren geht, während das Universum expandiert und sich abkühlt. In dieser Betrachtungsweise ist die unsymmetrische Welt, die wir um uns herum sehen, nur die gebrochene Phase einer hochsymmetrischen Theorie am Beginn des Universums, als Kräfte, Materie und Raumzeit in einem einzigen Gebilde vereinigt waren. Abbildung 1 soll einen künstlerischen Eindruck dieses Prozesses wiedergeben. Allerdings ist dieses Bild bis jetzt nur bis zu den Energieskalen validiert, die dem LHC am CERN zugänglich sind, oder äquivalenten Entfernungen bis hinunter zu 10−18 cm. Bislang unbeantwortet ist die Frage, ob die starken und die elektroschwachen Kräfte auch in eine große vereinheitlichte Theorie verschmelzen, bevor man die Planck-Skala erreicht, und wenn das so ist, bei welcher Energie das stattfindet. Man kommt nicht umhin, die Gravitation einzubeziehen, wenn die Stärke der Gravitationskopplung mit der Stärke der anderen Kräfte vergleichbar wird.
Unter den konkurrierenden Theorien ist wohl die vielversprechendste die Supersymmetrie, eine neue Art von Symmetrie, die Bosonen und Fermionen verbindet, dadurch Kräfte mit der Materie (Quarks und Leptonen) vereinigt und die Raumzeit mit zusätzlichen fermionischen Dimensionen ausstattet. Supersymmetrie ist vom Gesichtspunkt der Aufhebung von Divergenzen sehr natürlich, weil Bosonen und Fermionen grundsätzlich mit entgegengesetzten Vorzeichen zu den Schleifendiagrammen beitragen. Auch wenn jüngste Hinweise vom LHC stark darauf hinweisen, dass die Natur von dieser Option keinen Gebrauch macht, gibt es keinen Grund, die Idee der Supersymmetrie an sich aufzugeben. Denn vielleicht ist die Supersymmetrie noch nicht das Ende der Geschichte.
Hinweise auf eine enorme Symmetrievergrößerung sind auch noch an einer völlig anderen Stelle aufgetaucht, nämlich bei der Untersuchung der kosmologischen Lösungen der Einstein’schen Gleichungen in der Nähe einer raumartigen Singularität. Diese mathematische Analyse hat faszinierende Hinweise auf eine unendlich-dimensionalen Dualitätssymmetrie offenbart, die den Namen ‚E10‘ [3, 4] trägt, und die „sich öffnet“, wenn man sich der kosmologischen (Urknall-)Singularität nähert. Könnte es sein, dass die Einstein’schen Gleichungen im Grenzfall nahe der Singularität uns etwas über die zugrundeliegenden Symmetrien der QG sagen? Man kann zu Recht argumentieren, dass diese riesige (und monströs komplexe) Symmetrie alles über die maximale Supersymmetrie und die Dualitäten endlicher Dimensionen „weiß“, die bis jetzt identifiziert wurden. Genauso wichtig ist, dass diese Symmetrie auch in Bereichen weiterhin sinnvoll ist, wo konventionelle Vorstellungen von Raum und Zeit versagen. Das ist eine der Schlüsseleigenschaften, die wir für die QG erwarten. Aus diesem Grund könnte die Dualitätssymmetrie sogar die (Raumzeit-)Supersymmetrie als das vereinigende Prinzip ersetzen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden: Alle wichtigen Fragen bleiben bislang unbeantwortet, trotz großer Bemühungen und zahlreicher vielversprechender Ideen. Unabhängig von den Resultaten weiterer Experimente werden Symmetrien eine entscheidende Rolle beim Versuch spielen, zu erkennen „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Dies trifft um so mehr zu, falls das SM ohne große „Kratzer“ bis zu höheren Energien überlebt, mit nur „kleinen“ Ergänzungen durch zusätzliche Elementarteilchen wie z. B. Axionen oder schwere Higgs-Bosonen. Es bleibt eine zentrale Herausforderung der Physik, die Struktur der Niederenergiewelt vom Standpunkt einer Planck-Skalentheorie zu erklären.